Europäische Union:Der EuGH schärft seine Waffen

Europäische Union: Der Europäische Gerichtshof solle eine zentrale Rolle bei der Verteidigung der europäischen Rechtsstaatlichkeit spielen, finden die Richter in Luxemburg.

Der Europäische Gerichtshof solle eine zentrale Rolle bei der Verteidigung der europäischen Rechtsstaatlichkeit spielen, finden die Richter in Luxemburg.

(Foto: imago)

Eine Anfrage Irlands führt das Gericht zu der Frage: Ist Polen noch ein Rechtsstaat?

Von Wolfgang Janisch, Karlsruhe

Der Europäische Haftbefehl, einst Ausdruck des Vertrauens in die Justizsysteme, hat sich eher zu einem Gradmesser des Zweifels entwickelt. Als Spanien von Deutschland die Auslieferung von Carles Puigdemont verlangte, ging es um die Frage, ob die dortige Justiz überzogen hat. Und schon seit Jahren werden immer wieder Auslieferungen etwa nach Ungarn oder Rumänien gestoppt, weil dort in manchen Gefängnissen menschenunwürdige Bedingungen herrschen. An diesem Freitag aber geht es um eine umfassende Vertrauensfrage, die nicht überbelegte Zellen oder übereifrige Ankläger betrifft: Ist Polen noch ein Rechtsstaat?

Der Europäische Gerichtshof verhandelt über drei EU-Haftbefehle aus Polen, die ihm der irische High Court zur Prüfung vorgelegt hat. Normalerweise prüft die Justiz die formalen Voraussetzungen und forscht nur dann nach, wenn sich im konkreten Fall wirklich Zweifel aufdrängen. Das irische Gericht meint nun aber, dass man im Falle Polens womöglich nicht mehr zweifeln muss, sondern bereits Gewissheit hat - darüber, dass das Justizsystem nicht mehr im Einklang mit dem Rechtsstaatsprinzip stehe. Denn die EU-Kommission habe ein Rechtsstaatsverfahren in Gang gesetzt, auch die menschenrechtliche Einschätzung der Venedig-Kommission sei deutlich. Die irischen Richter wollen daher wissen, ob man polnischen Gerichten generell den Auslieferungsstempel verweigern muss, ohne Einzelfallprüfung - weil dort schlicht kein faires Verfahren mehr zu erwarten sei.

Das irische Gericht ist sich sicher: Polens Justizsystem folgt nicht mehr dem Rechtsstaatsprinzip

Es ist ein Fall, auf den der EuGH gewartet hat. Schon seit geraumer Zeit sind dessen Richter hochgradig alarmiert über die Zustände in Polen und auch in Ungarn. Doch selbst den obersten Richtern Europas sind oft die Hände gebunden, sie dürfen nur auf Klagen und Vorlagen reagieren. "Als Rechtsprechungsorgan verfolgt der Gerichtshof keinerlei politische Agenda, um EU-Werte proaktiv zu kontrollieren", sagte EuGH-Präsident Koen Lenaerts vor ein paar Monaten in Karlsruhe.

Keine politische Agenda, sicher - aber einen juristischen Masterplan gibt es. Seit 2017 werben Lenaerts und der deutsche EuGH-Richter Thomas von Danwitz in Vorträgen für eine zentrale Rolle ihres Gerichts bei der Verteidigung europäischer Rechtsstaatlichkeit. Von Danwitz sprach im März am King's College in London und vergangene Woche in Berlin, beim europäischen Justizgipfel. Auch Lenaerts ist mit einem Grundsatzreferat zu europäischen Grundwerten unterwegs: Menschenwürde, Demokratie - und Rechtsstaatlichkeit.

Parallel dazu schärft der EuGH seine Waffen. Im Verfahren um das Abholzen des geschützten polnischen Białowieża-Urwalds drohte der EuGH mit einer einstweiligen Anordnung mit einem Zwangsgeld von 100 000 Euro pro Tag, sollte Polen den rechtswidrigen Holzschlag fortsetzen, eine juristische Premiere. Man hat Polen gezeigt, dass Rechtsverstöße schnell sehr teuer werden können - man muss nicht mehr das Ende eines Verfahrens abwarten.

Ein weiterer Baustein der Luxemburger Rechtsstaats-Strategie war ein abseitiger Fall aus Portugal. Die dortigen Einschnitte in die Besoldung sahen Richter als Bedrohung ihrer Unabhängigkeit. Ihren Fall haben sie verloren, doch die EU-Richter nutzten ihn, um zu klären, was richterliche Unabhängigkeit heißt: Richter müssten ihre Funktion in voller Autonomie ausüben können, "ohne mit irgendeiner Stelle hierarchisch verbunden oder ihr untergeordnet zu sein und ohne von irgendeiner Stelle Anordnungen oder Anweisungen zu erhalten".

Man muss nicht Jura studiert haben, um zu verstehen, dass hier über Bande gespielt wurde, von Portugal nach Polen. "Wir spielen Billard", der Satz ist auch im EuGH zu hören. Die Frage der richterlichen Unabhängigkeit ist der Kern der Kritik an den polnischen "Reformen", die man präziser wohl als Abwicklung des Rechtsstaats beschreiben muss. Zuerst versuchte die Regierungspartei Pis, die Kontrolle über das Verfassungsgericht zu erlangen, dann nahm sie das Oberste Gericht ins Visier und den vormals politikfernen Landesjustizrats, der bei Personalentscheidungen eine zentrale Rolle spielt. Die richterliche Unabhängigkeit zu untergraben, war zentrales Anliegen der Partei, die "Recht und Gerechtigkeit" im Namen trägt.

Ein Urteil ist erst in Monaten zu erwarten. Kaum vorstellbar, dass die Richter die Gelegenheit für eine klare Positionierung verstreichen lassen. Die Zeit des Billardspielens ist vorbei.

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