Europäische Union:Brüssel spielt Ausstiegsszenarien durch

EU und Großbritannien

Wird diese Fahne bald nicht mehr in Brüssel wehen? Die EU bereitet sich auf einen möglichen Austritt des Vereinigten Königreiches vor.

(Foto: dpa)

Sollten sich die Briten nach einem möglichen Brexit nicht an Regeln halten, könnte die EU sie abrupt rauswerfen.

Von Daniel Brössler, Brüssel

Im November 2014, wenige Tage nach seinem Amtsantritt, musste Jean-Claude Juncker nach Australien. In Brisbane fand der G-20-Gipfel statt; der neue Präsident der EU-Kommission durfte nicht fehlen. So kam es zu einer denkwürdigen Begegnung mit Wladimir Putin, doch im Rückblick erweist sich ein anderes Treffen als historisch. Das erste Mal sprach Juncker mit dem britischen Premierminister David Cameron ernsthaft über die Modalitäten eines Referendums über den Verbleib des Königreichs in der EU. Am anderen Ende der Welt ging es um das mögliche Ende der EU, wie wir sie kennen.

Juncker soll gewarnt haben. So eine Volksabstimmung sei unberechenbar; am Ende entschieden Emotionen. Cameron soll sich siegesgewiss gezeigt haben.

In Brüssel stellt man sich mittlerweile darauf ein, dass Juncker recht behält. Mit allen Konsequenzen. Öffentlich hält sich die EU-Kommission zwar zurück, doch seit Wochen werden im Berlaymont-Gebäude die verschiedenen Varianten durchgespielt. Für den Fall, dass die jüngsten Umfragen recht behalten und das Brexit-Lager gewinnt, gibt es aus Brüsseler Sicht zwei mögliche Verfahren - ein geordnetes und ein "wildes".

Ein geordnetes Verfahren müsste der Anleitung im EU-Vertrag folgen. Dort ist der Austritt in Artikel 50 geregelt. Als Erstes muss die Austrittsabsicht offiziell mitgeteilt werden. Danach beginnen die Scheidungsverhandlungen, für die laut Vertrag nur zwei Jahre vorgesehen sind. Eine Verlängerung können die EU-Staaten nur einstimmig gewähren. So entstünde für die Briten ein unangenehmer Zeitdruck. Die EU-Kommission erwartet von Cameron dennoch, dass er nach einem Sieg des Brexit-Lagers umgehend den offiziellen Austrittswunsch übermittelt - spätestens jedenfalls bis zum Dienstag nach dem Referendum. An dem Tag versammeln sich die Staats- und Regierungschefs zum Gipfel.

Cameron will sich an die Regeln halten - die Brexit-Befürworter nicht

Cameron hat schon angekündigt, sich an Artikel 50 halten zu wollen. "Wenn das britische Volk sich für den Austritt entscheidet, gibt es nur einen Weg - nämlich Artikel 50 der Verträge zu aktivieren und den Austrittsprozess zu beginnen. Und das britische Volk würde zu Recht erwarten, dass das sofort passiert", sagte er schon vor Monaten.

Die Frage ist, ob Cameron nach einem Debakel im Referendum in der Lage sein wird, dieses Versprechen einzulösen. Befürworter des Brexit haben schon angekündigt, sich mit dem Artikel 50 zunächst nicht abgeben zu wollen. Man solle doch erst einmal schauen, ob es nicht einen "informelleren Prozess" gibt, sagte der Fraktionschef der Konservativen im Unterhaus, Chris Grayling, der Financial Times.

Noch vor dem Brexit möchte Grayling EU-Recht in Großbritannien teilweise aushebeln. So soll etwa die Geltung von Urteilen des Europäischen Gerichtshofes eingeschränkt werden. Auch in Migrationsfragen und in der Handelspolitik will Grayling EU-Recht ignorieren. Ein Gesetz von 1972, das die Übertragung von Souveränitätsrechten nach Europa regelt, will der Tory ebenfalls vor dem Austritt kassieren.

Sofortige Suspendierung der Mitgliedschaft möglich

In Brüssel lösen solche Gedankenspiele Alarm aus. "Das wäre unlauteres Verhalten", warnt der CDU-Europaabgeordnete Elmar Brok, der maßgeblich an der Ausarbeitung des Vertrages von Lissabon beteiligt war. Komme es dazu, müsse es eine adäquate Antwort geben.

Aktuelles Lexikon: Brexit

Eines der derzeit häufig benutzten Worte ist der Brexit - der von einigen gewünschte, von anderen befürchtete Austritt Großbritanniens aus der EU. Die Karriere dieser Wortverschmelzung aus Britain und exit ist ungewöhnlich, denn sie tauchte erst vor vier Jahren in einem Artikel des Economist auf. Unter der Überschrift "A Brixit looms" (Ein Brixit dämmert) prophezeite der Autor, dass die Briten demnächst austreten könnten - wobei seine kreative Leistung darin bestand, die kurz zuvor geschaffene Prägung "Grexit"auf die britischen Verhältnisse zu übertragen. Erst im Sommer 2012 kreierte ein BBC-Journalist das heute so gebräuchliche Wort Brexit und schuf damit eine gefährlich-griffige Formel für einen komplizierten und folgenreichen Prozess. Sprachwissenschaftlich nennt man derartige Schöpfungen Kofferworte: Eigentlich getrennte Sphären (Britain und exit) werden in einem Wort wie in einem Koffer zusammengebracht. Manche sind so geläufig wie Brunch (Breakfast und Lunch), andere wie etwa der Bankster (Banker und Gangster) haben sich im Sprachgebrauch (noch) nicht durchgesetzt. In der englischsprachigen Linguistik spricht man von portmanteau words. Zurück geht dieser Ausdruck auf Lewis Carroll. Der Schriftsteller besaß einige zweiteilige Portmanteau-Reisetaschen und hatte ein so großes Faible dafür, dass er in seinen Romanen Wortverschmelzungen metaphorisch so bezeichnete.

Marc Hoch

Genau darüber hat man sich in der EU-Kommission bereits Gedanken gemacht. Die Waffen des EU-Vertrages halten Junckers Leute für zu stumpf. Nach Artikel 7 etwa können einem EU-Staat bestimmte Rechte entzogen werden, doch das langwierige Verfahren würde die Brexit-Mannschaft in London kaum beeindrucken.

Nach rechtlichen Prüfungen sieht man in der Kommission die Möglichkeit, mit deutlich härteren Bandagen zu antworten. Das drastische Szenario sieht vor, das Referendum als offiziellen Austrittswunsch zu werten. Einseitige Schritte von Mitgliedstaaten darf die EU zwar nicht auf gleiche Weise heimzahlen. In der EU als Gemeinschaft auf unbestimmte Zeit gilt der sonst im internationalen Geschäft geltende Grundsatz der Gegenseitigkeit nicht. Durch den von Großbritannien avisierten Austritt entstünde nach Ansicht von EU-Juristen aber eine neue Lage.

Diese könnte, so die Annahme, eine sofortige Suspendierung der britischen EU-Mitgliedschaft ermöglichen - mit verheerenden Folgen für die britische Volkswirtschaft, denn die Regeln des Binnenmarktes würden auf das Vereinigte Königreich nicht mehr angewendet. Kein britischer Premierminister werde das verantworten wollen, heißt es in EU-Kreisen. Deshalb werde dieses "denkbar schlechteste Szenario" aller Voraussicht nach nicht Wirklichkeit werden.

Am Morgen danach: Ruhe ausstrahlen

Wenn sich am Morgen nach einem Brexit-Votum Kommissionspräsident Juncker, Ratspräsident Donald Tusk, Parlamentschef Martin Schulz und der niederländische Ministerpräsident Mark Rutte für die amtierende EU-Präsidentschaft treffen, werden sie also auf Post aus London warten und versuchen, Ruhe auszustrahlen. Vermeiden werden sie Jetzt-erst-recht-Reden etwa über eine tiefere Integration der Euro-Zone. Sicherheit lautet vielmehr das Thema, mit dem die Bürger der bald nur noch 27 Staaten von ihrer EU überzeugt werden sollen. Das ist auch mit Frankreichs Präsident François Hollande, der erst andere Pläne hatte, und Bundeskanzlerin Angela Merkel abgesprochen, aber auch mit der polnischen Ministerpräsidentin Beata Szydło.

Noch aber hofft man in Brüssel auf ein Wunder. Für den Fall, dass die Briten doch in der EU bleiben wollen, soll es beim Gipfel Ende Juni vor allem um das Lieblingsthema Großbritanniens gehen - die Vertiefung des Binnenmarktes. Dieser solle "in allen Aspekten" vollendet werden, heißt es in einem Entwurf.

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