Europaabgeordnete in Straßburg:Maschinisten der Macht

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Das Europaparlament in der französischen Stadt Straßburg.

(Foto: AFP)

Bei der ersten Europawahl im Jahr 1979 waren die Abgeordneten bescheidene Haushaltswächter. Inzwischen hat sich das Parlament in Straßburg zu einem europäischen Machtzentrum etabliert - und bekommt nun womöglich noch mehr Einfluss.

Von Daniel Brössler

Ob man die Europäische Union mag oder nicht: Am späten Sonntagabend geht die wohl zweitgrößte demokratische Übung der Welt zu Ende. Knapp 400 Millionen Bürger aus 28 Staaten werden dann die Chance gehabt haben, aus 16 351 Kandidaten von 948 Listen jene 751 Frauen und Männer zu bestimmen, die in den kommenden fünf Jahren Mitglieder des Europäischen Parlaments sein werden. Aber lohnt der Aufwand?

"Im Zuge der europäischen Integration sind dem Europäischen Parlament bedeutsame Zuständigkeiten zugewiesen, seine Stellung im Institutionengefüge ist kontinuierlich gestärkt worden." Der Satz stammt nicht aus einer Broschüre des Europaparlaments, sondern aus einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts. Gerade dieses Urteil hatte im Februar Frust bei Europapolitikern ausgelöst, weil es nach der Fünf-Prozent-Hürde auch die Drei-Prozent-Klausel bei der Europawahl kippte.

Obwohl also die Richter das Europaparlament nicht für wert befanden, vor Zersplitterung geschützt zu werden, verschlossen sie nicht die Augen vor einer Entwicklung, die nach der ersten Direktwahl 1979 mit bescheidenen Haushaltswächterrechten begonnen hatte, mittlerweile das Parlament aber als eines der europäischen Machtzentren etabliert hat.

Nach der Wahl wird sich das zunächst in einem Prozess niederschlagen, den die Bürger aus ihren Nationalstaaten kennen: Koalitionsverhandlungen. Eine Regierung im nationalstaatlichen Sinne hat die EU zwar nicht. An der Spitze steht vielmehr der Europäische Rat, bestehend aus den Staats- und Regierungschefs. Der Europäischen Kommission wiederum ist die Aufgabe als Hüterin der Verträge und als Verwaltungsapparat der Union zugewiesen. Daraus ergibt sich eine faktische Machtfülle, die in der Geschichte der EU immer wieder den Ruf nach demokratischer Kontrolle hat laut werden lassen.

Der Präsident - oder die Präsidentin - der EU-Kommission wird vom Europäischen Parlament gewählt. Das war auch schon in der Vergangenheit so, diesmal aber sind die Staats- und Regierungschefs durch den Lissabon-Vertrag erstmals angehalten, den Wahlausgang zu berücksichtigen, wenn sie ihren Personalvorschlag unterbreiten. Der Lissabon-Vertrag verlangt, dass sie das nach "entsprechenden Konsultationen" mit qualifizierter Mehrheit tun.

2790 Rechtsakte in der vergangenen Legislaturperiode

Hier kommen die "Koalitionsverhandlungen" ins Spiel. Noch bevor das Parlament Anfang Juli erstmals zusammentritt, wird der Kandidat der stärksten Fraktion versuchen, eine Mehrheit hinter sich zu vereinen. Aufgabe des Präsidenten des Europäischen Rats, Herman Van Rompuy, muss wiederum sein, einen Kandidaten zu präsentieren, der sowohl im Parlament als auch im Rat mehrheitsfähig ist. Wenn das schwierige Verfahren - vermutlich erst in vielen Wochen - zum Ziel geführt hat, müsste der neue Kommissionspräsident sich im Parlament also auf eine Art Regierungsmehrheit stützen können. Das war bisher nicht der Fall.

Es ist auch bislang nicht typisch für die Arbeit des Europaparlaments, das mittlerweile eine wichtige Funktion als Gesetzgeber erfüllt. In der vergangenen Legislaturperiode haben die Europaabgeordneten 2790 Rechtsakte verabschiedet, davon mehr als 1000 mit Gesetzescharakter. Das Zustandekommen dieser Gesetze unterscheidet sich allerdings wesentlich von dem in Nationalstaaten. Stützt sich das Gesetzgebungsverfahren dort fast ausnahmslos auf die Regierungsmehrheit, wird die Arbeit im Europaparlament von bunten Bündnissen geprägt.

Von den Ausschüssen berufene "Berichterstatter" koordinieren die Arbeit am Gesetzestext und suchen fraktionsübergreifend so lange nach Kompromissen, bis eine mehrheitsfähige Fassung gefunden ist. In Ermangelung von Regierungsfraktionen mit direkter Rückkopplung in die Machtzentrale findet die nötige Abstimmung in Trilog genannten Runden statt, in denen Rat, Kommission und Parlament um einen Konsens ringen. 1557 solcher Treffen gab es in der vergangenen Legislaturperiode. Öffentliche Beachtung finden diese Sitzungen aber zumeist nur in der dramatischen Schlussphase zentraler Vorhaben, wie zuletzt bei der Bankenunion.

Macht übt das Parlament auch als Wächter über die Verträge aus, die die Europäische Union schließt. Das können Assoziierungsabkommen wie jenes mit der Ukraine sein oder auch ein Freihandelsabkommen, wie es die EU und die USA gerade schmieden. Die Kämpfe um dieses Transatlantische Handels- und Partnerschaftsabkommen (TTIP) dürften die kommenden Jahre in Straßburg und Brüssel, wo das Parlament auch tagt, prägen.

Im Brüsseler Parlamentsgebäude laufen in der Nacht zu Montag die Ergebnisse zusammen. Werden die EU-Feinde in Großbritannien so stark und in den Niederlanden so schwach werden wie vermutet? Werden tatsächlich die Christdemokraten der Europäischen Volkspartei (EVP) von Jean-Claude Juncker oder doch die Sozialdemokraten (S&D) von Martin Schulz vorne liegen? Und: In der Hälfte der EU-Länder gelten Sperrklauseln, die für etwa 15 Parteien Zitterpartien bedeuten. Politisch und wahlrechtlich bleibt die EU ein Puzzle. In der Wahlnacht dürfte erst spät ein Bild daraus werden.

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