Europa 2014:Unter Ungleichen

Europa 2014: Trotz der Europaliebe und des Wohlstands der Deutschen provoziert die Bundesregierung von Angela Merkel immer mehr Widerstand in der Europäischen Union.

Trotz der Europaliebe und des Wohlstands der Deutschen provoziert die Bundesregierung von Angela Merkel immer mehr Widerstand in der Europäischen Union.

(Foto: AFP)

Die Wahl zum Europäischen Parlament wird 2014 alle Politik gefrieren lassen: Großmäuler werden die Bühne betreten, die das einfache Wort gegen Europa führen. Je mehr Macht Merkels Bundesregierung hat, desto mehr Widerstand provoziert sie - wie kann die Gemeinschaft funktionieren, wenn einer so stark und viele so schwach sind?

Ein Kommentar von Stefan Kornelius

Wer die politischen Kalender 2014 und 2013 vergleicht, wird eine erstaunliche Parallele feststellen: Ein Schlüsselereignis verstellt den Weg; ein psychologisches Hindernis, gebaut aus vielen Hoffnungen und Sorgen. Was die Bundestagswahl im vergangen Jahr war, das bietet 2014 die Wahl zum Europäischen Parlament: ein Ereignis, das alle Politik gefrieren lässt.

Das Ratstreffen kurz vor Weihnachten hat einen Vorgeschmack auf diese Tiefkühl-Politik geliefert. Große Themen, kleine Taten. Die Wahl zum Europäischen Parlament wird die Temperaturen noch einmal drücken. Großmäuler werden die Bühne betreten, die das einfache Wort gegen Europa führen. Schwer ist das nicht - die Wähler werden sie belohnen.

Die Rechtsradikalen in Frankreich und den Niederlanden haben sich bereits verbündet, die britische Ukip steht ihnen nahe, Grillo wird die Frustrierten in Italien einfangen, die griechischen Linksextremen werden ihre Erfolge wiederholen und gemeinsam mit den abstoßenden Rechtsextremen die Stabilität der Regierung in Athen gefährden. Ein Drittel der Sitze im Europaparlament könnte so von Abgeordneten besetzt werden, deren Ziel es ist, dieses Parlament aufzulösen.

Europa ist ein asymmetrischer Kontinent

Daneben zehren mächtige Kräfte in den Nationen an der Europäischen Union. Die Separatisten in Schottland und Katalonien blasen zum Sturm, die Dynamik in Großbritannien spricht allemal für den Bruch mit Europa, in Frankreich dilettiert ein Präsident, der weder für sein Land noch für Europa eine Botschaft hat.

Deutschland scheint in all dem ein Hort der Unerschrockenheit. Kein anderes Land in der EU hat sich so sehr der Gemeinschafts-Idee verschrieben. Selbst das Parteiensystem scheint im Großen und Ganzen immun gegen den Euro-Populismus zu sein. Die selbsternannte Alternative für Deutschland betreibt Selbstzerstörung, niemand braucht sie.

Europa ist ein asymmetrischer Kontinent: So wie die politische Leidenschaft ungleich verteilt ist, so gibt es ein Missverhältnis bei Wohlstand und Wachstum, Zuversicht und Tatkraft. All das füttert einen Kreislauf des Unmutes: Je mehr Deutschland den Takt angibt in der Gemeinschaft, desto mehr Widerstand provoziert es. Wer will schon den Starken immer stärker machen? Europas politische Klasse hat sich 2013 über kein Thema mehr Gedanken gemacht als über diese deutsche Dominanz. Und obwohl diese Stärke selbst von der Bundesregierung eher als hinderlich betrachtet wird, lässt sie sich so nicht einfach wegoperieren.

Erdrückender Eifer, einschüchternde Strenge

Es gab einmal die Hoffnung, gerade der deutschen Bundeskanzlerin, man könne nach der Europawahl endlich an die wirklichen Ursachen der Krise herangehen und Europa eine Reform verpassen, die es nach drei Jahren Notbetrieb bitter nötig hätte. Der Zeitpunkt wäre günstig. Bis zu den britischen Unterhauswahlen im Frühjahr 2015 ist Europa wahlfrei - und könnte jenseits nationaler Interessen ein wenig das Gemeinsame pflegen.

Diese Großreform - die mutige Harmonisierung und Kontrolle wichtiger Stützen des souveränen Staates wie der Haushaltspolitik, der Ausgabenpolitik, Teile der Sozial- oder Steuerpolitik, die Neuordnung von Kompetenzen zwischen Rat, Kommission und Parlament, die Reform der Institutionen überhaupt -, diese Großreform also wird nicht stattfinden, wenn kein Wunder mehr geschieht. Stattdessen wird sich die Union mit der Verteilung von Posten und Kompetenzen gemäß der alten Muster aufhalten: Hier ein Kommissar aus dem Norden gegen einen Beauftragten aus dem Süden, hier ein Parlamentspräsident eines Alt-Mitglieds gegen einen Generalsekretär aus den neuen Mitgliedsstaaten. Und bitte keinen Deutschen mehr - die haben schon Macht genug. Der Sozialdemokrat Martin Schulz wird seine Ambitionen zügeln müssen.

Mehr Psychologie als Mathematik

Den Deutschen mag es widersinnig erscheinen: Sie selbst sollen das größte Hindernis auf dem Weg zur Reform sein, weil sie so wohlhabend und europaliebend sind? Und doch: Ihr Eifer wirkt erdrückend, ihre Strenge einschüchternd. Auch wenn Zahlen und Logik für den deutschen Weg sprechen: Europa ist mehr Psychologie als Mathematik.

Deswegen findet Europa nach Jahren der ökonomischen Krise endlich zu seinem historischen Leitmotiv zurück, das schon bei der Gründung der Montanunion und in allen Phasen der Integration die Entscheidungen leitete: Wie kann die Gemeinschaft funktionieren, wenn einer so stark und viele so schwach sind? Wie findet Europa seinen Frieden mit Deutschland - und Deutschland seinen Frieden mit Europa? Im Zentenniums-Jahr der europäischen Urkatastrophe Erster Weltkrieg ist das keine schlechte Frage. Beantworten kann sie derzeit keiner.

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