Europa:Rückkehr des Schlagbaums

Reisen ohne Grenzkontrollen - das ist für viele Bürger die wohl greifbarste Errungenschaft der EU. Nun aber ist die Reisefreiheit in akuter Gefahr.

Von Daniel Brössler und Thomas Kirchner

In dieser Woche hat Europa wieder gelitten. An der Grenze zu Kroatien begann Slowenien, einen Zaun zu errichten. Schweden, viel gerühmt für seine Toleranz, fing an, stichprobenartig Pässe zu kontrollieren, wie zuvor schon Deutschland, Österreich und Slowenien. Und in Brüssel sind die Spitzenpolitiker alarmiert, sie sehen das Schengen-System für Reisen ohne Grenzkontrollen akut bedroht - und damit die für die Bürger wohl größte Errungenschaft der EU. "Scheitert Schengen, scheitert Europa", sagte der luxemburgische Außenminister Jean Asselborn, dessen Land derzeit den EU-Vorsitz hat, der Süddeutschen Zeitung.

Die politische Aufmerksamkeit richtet sich derzeit ganz auf diese Frau: Angela Merkel. Spätestens seitdem sich die Bundeskanzlerin für Selfies mit syrischen Flüchtlingen fotografieren ließ, haben viele das Gefühl, dass es die Deutschen waren, die erst die ganz große Migrationsbewegung ausgelöst und damit das grenzenlose Europa in Gefahr gebracht haben. Mittlerweile ändert Merkel in Berlin, bedrängt von innerparteilichen Kritikern, voran Finanzminister Wolfgang Schäuble, in kleinen Schritten den Kurs.

Öffentlich bekennt sie sich aber weiterhin - so auch am Freitagabend im ZDF - zur "Willkomenskultur".

Der wachsende Druck auf das Schengen-System steht exemplarisch für die Krise der Union. Es ist eine Krise, in der auf der einen Seite Verordnungen stehen wie jene mit der Nummer 562/2006, die den sogenannten Schengener Grenzkodex enthält, und auf der anderen Seite: die Wirklichkeit. In der Verordnung steht, dass Grenzkontrollen "nicht nur im Interesse des Mitgliedstaats liegen, an dessen Außengrenzen sie erfolgen, sondern auch im Interesse sämtlicher Mitgliedstaaten, die die Grenzkontrollen an den Binnengrenzen abgeschafft haben". In der Wirklichkeit sind in diesem Jahr 540 000 Flüchtlinge in Griechenland angekommen und größtenteils unkontrolliert weitergezogen durch den Balkan nach Deutschland und Schweden. Die Europäische Union bekommt Regeln und Realität nicht mehr in Einklang.

"Wir brauchen ein anderes System, das ist offensichtlich", sagt der schwedische Ministerpräsident Stefan Löfven, dessen Land sich überfordert sieht. "Das ist kein Problem, das ein, zwei oder drei Länder betrifft. Das ist ein Problem für die ganze Europäische Union." Dass sich wieder lange Schlangen an den Grenzen bilden, ist auch ein Hilfeschrei. Aber was folgt daraus?

Die EU-Kommission hat einen Sinn für die Dramatik der Lage, will aber Zweifel an ihrem Krisenmanagement vermeiden. Von einer "Bedrohung" des grenzfreien Raums wolle sie nicht reden, sagt eine Sprecherin. Der Schengen-Kodex sieht vor, dass man zeitweilig Kontrollen einführen darf, wenn "eine ernsthafte Bedrohung der öffentlichen Ordnung oder inneren Sicherheit" für ein Land besteht.

Ein Europa ohne Schlagbäume, Bewegung ohne Barriere: Das war und ist auch ein deutsch-französischer Traum. 1984 versprachen Helmut Kohl und François Mitterrand: "Wir werden die Grenzen zwischen unseren Ländern abschaffen." Am 14. Juni 1985 vereinbarten Deutschland, Frankreich, Belgien, Luxemburg und die Niederlande im luxemburgischen Grenzort Schengen den "schrittweisen Abbau von Grenzkontrollen"; zehn Jahre später wurde die Reisefreiheit Realität. Für das Projekt Europa war das ein mindestens so starker Schub wie der Binnenmarkt und die gemeinsame Währung. Heute umfasst die Schengen-Zone 26 Staaten. 22 der 28 EU-Länder sowie Norwegen, die Schweiz, Liechtenstein und Island sind dabei.

Einig sind sich alle darin, dass nun die Außengrenzen besser geschützt werden müssen. Helfen soll dabei auch die Türkei. Bei einem Gipfeltreffen wohl noch im November soll es einen Deal geben: Die Türkei erhält Geld und einiges mehr, im Gegenzug sorgt sie dafür, dass weniger Flüchtlinge weiterreisen. Das reicht aber nicht, wenn man sich nicht auf eine EU-weite Verteilung von Flüchtlingen einigen kann, was jedoch derzeit unter anderem an Osteuropäern scheitert.

Die Bereitschaft zur Solidarität ist begrenzt, darin zeigt sich die Gefahr für die Union über das Schengen-System hinaus. Am Mittwoch wird in Brüssel über die sogenannten Kohäsionsfonds geredet, die die Unterschiede zwischen Arm und Reich in der Union verringern sollen. Deutschland wird unmissverständlich klarmachen, dass Solidarität keine Einbahnstraße ist. Doch selten ist Merkel auf so taube Ohren gestoßen.

Unterstützt wird sie auch von EU-Migrationskommissar Dimitris Avramopoulos, der ein "größeres Verantwortungsbewusstsein der Mitgliedstaaten" fordert. Auch der Luxemburger Asselborn kämpft dafür, Flüchtlinge EU-weit zu verteilen. Er sieht die EU in Zeitnot. "Noch mehr als der Euro steht Schengen für Europa", sagt er. Fiele es, könnte das verheerende Folgen für sein Land haben. Täglich kämen 170 000 Grenzgänger zur Arbeit nach Luxemburg, die dann wieder kontrolliert werden müssten. "Luxemburg", warnt er, "würde ersticken."

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