Europa:Louvre oder Lido

Die EU verschenkt Interrail-Tickets an 30000 Jugendliche. Bleibt die Frage, was die sich anschauen sollen.

Von Martin Zips

Die Deutschen sind gar nicht so gewissenhaft und pünktlich, wie oft behauptet wird. So empfand es der amerikanische Autor Mark Twain bei seinem ersten "Bummel durch Europa", 1878. Zudem hören sie, anders als von ihm erwartet, komische Musik von einem Mann namens Wagner. Töne, die "Zahnweh in der Magengegend" auslösen. Das Fazit seiner Fahrt: "Reisen ist tödlich für Vorurteile."

Im Kampf gegen das böse Vorurteil ist es also eine tolle Sache, dass die EU jetzt 15 000 Interrail-Tickets an junge Leute verschenkt. Von 12. bis 26. Juni kann sich jeder EU-Bürger, der zwischen dem 2. Juli 1999 und dem 1. Juli 2000 geboren wurde, im Internet bewerben. Wird man von der zuständigen Jury nach Quiz und Länderquote ausgewählt, so darf man einen Monat lang mit Bahn, Bus und Schiff vier EU-Länder gratis bereisen. Einzelfahrer können sich ebenso bewerben wie Gruppen von bis zu fünf Personen. Im Herbst dann wird es eine weitere Bewerbungsrunde geben, bis Jahresende sollen bis zu 30 000 Fahrkarten verschenkt werden. Zwölf Millionen Euro hat die EU-Kommission für das Projekt vorgesehen, von 2021 an sollen jährlich bis zu 700 Millionen Euro ins "Free Interrail" fließen. Die Idee stammt von zwei jungen Deutschen namens Herr und Speer, die sich auf ihrer Website wahlweise als "Aktivisten, Autoren, Feministen und Europäer" buchen lassen und die mit ihrem Vorschlag von Til Schweiger über Joschka Fischer bis Alexander Van der Bellen schon viel prominenten Zuspruch erhalten haben. Politisch erstmals voran brachte die Sache mit seiner Anfrage vor zwei Jahren der Europa-Abgeordnete István Ujhelyi, ein Sozialist aus dem wunderschönen Reiseland Ungarn.

"Grundsätzlich ist das natürlich eine gute Sache", sagt Heinz-Peter Meidinger, Präsident des Deutschen Lehrerverbandes. "Um allerdings sicherzugehen, dass die Tickets wirklich dazu genutzt werden, dass sich die Jugendlichen europäisch weiterbilden, so ist es damit nicht getan." Der Oberpfälzer Meidinger schlägt vor, dass sich die jungen Leute in Museen oder Gedenkstätten Stempel abholen sollen, quasi um nicht an der Strandbar zu versacken. Noch sinnvoller als ein Interrail-Ticket sei ein für alle Schüler verpflichtender, mehrmonatiger Aufenthalt an einer Schule in einem anderen EU-Staat.

"Bloß nicht übertreiben", warnt hingegen der Göttinger Reisehistoriker Hans Erich Bödeker. "Auch an der Adria kann man interessante Leute treffen. Da braucht man kein Stempelbuch." Mit 18 müsse es ja nicht immer gleich der Prado sein. Reisen helfe, "den eigenen Blick zu überdenken". Ganz egal, wohin es gehe. Auch er sei vor mehr als vier Jahrzehnten gegen die Bedenken seiner Eltern per Interrail nach Südeuropa aufgebrochen. "Raus, raus. Hauptsache raus." Heute kostet so ein Interrail-Ticket für junge Erwachsene 510 Euro. In einem Monat lassen sich damit 30 Länder besuchen. Doch Vorsicht: Goethes Bilanz seiner "Italienischen Reise" klang letztlich doch betrübt: "Je mehr ich die Welt sehe", so schrieb er, "desto weniger kann ich hoffen, dass die Menschheit je eine weise, kluge, glückliche Masse werden könne." Aber selbst das zeigt ja: Reisen bildet ungemein.

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