Europa in den Sondierungen:Brüssel frohlockt über ein Berliner Allerlei

Martin Schulz und Angela Merkel

Martin Schulz und Angela Merkel haben das Thema Europa in den Sondierungen persönlich verhandelt, manche der Sätze in dem Kapitel hat EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker schon mal so ähnlich formuliert.

(Foto: picture alliance / dpa)
  • Im Sondierungspapier von Union und SPD ist ein parlamentarisch kontrollierter Europäischer Währungsfonds als Ziel ausgegeben.
  • Das deckt sich mit den Vorstellungen von EU-Kommissionspräsident Juncker.
  • Doch das Sondierungspapier bleibt in weiten Teilen uneindeutig, auf zahlreiche zentrale Fragen für Europa gibt es keine Antwort.

Von Daniel Brössler, Brüssel, und Stefan Kornelius

Weit blättern mussten sie nicht. Als das Sondierungspapier von CDU, CSU und SPD vergangene Woche bekannt wurde, fanden Beamte, Experten und Politiker in Brüssel jene Passagen, die sie am meisten interessieren, ganz vorne.

"Ein neuer Aufbruch für Europa" lautet ja gleich das erste Kapitel, und vieles von dem, was auf den folgenden drei Seiten geschrieben steht, kam den Menschen in der EU-Schaltzentrale bekannt vor. Da wäre etwa der Satz in Zeile 165. "Den Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) wollen wir zu einem parlamentarisch kontrollierten Europäischen Währungsfonds weiterentwickeln, der im Unionsrecht verankert sein sollte", steht da.

Wo hat man das schon mal gehört? Am 13. September im Europäischen Parlament. "Ich denke, der ESM sollte nun schrittweise zu einem Europäischen Währungsfonds ausgebaut werden, der allerdings fest im Regel- und Kompetenzwerk der Europäischen Union verankert sein muss", sagte da Jean-Claude Juncker in seiner Rede zur Lage der Union.

Der EU-Kommissionspräsident hatte sich über das Berliner Papier sogleich "voll umfänglich zufrieden" geäußert und es als "sehr erheblichen, positiven, konstruktiven, zukunftsorientierten Beitrag zur europapolitischen Debatte" gelobt. Trägt das Papier also die Handschrift von einem, der gar nicht mit am Tisch saß, der aber sowohl mit Kanzlerin Angela Merkel als auch mit seinem Freund, SPD-Chef Martin Schulz, in regem Telefonkontakt steht? Ganz so ist es nicht. Aber auch nicht ganz anders.

Mehr Geld für den EU-Haushalt, heißt es da. Aber wofür? Und wer soll das kontrollieren?

Bemerkenswert ist, dass die Europa-Seiten im Sondierungs-Papier den politischen Pulsschlag in Berlin kaum erhöht haben, obwohl es um Milliardenbeträge und sehr grundlegende Fragen für die EU der Zukunft geht. Ein paar Fachleute waren enthusiasmiert bis entsetzt und grübelten über die wahren Absichten, die Merkel oder Schulz bei der Formulierung bestimmter Passagen gehegt haben könnten.

Die Brexit-Lücke

Mit dem Brexit verliert die Europäische Union einen ihrer größten Nettozahler. Zwölf bis 14 Milliarden Euro fehlen dann pro Jahr. Das allein ist schon ein schwerer Schlag für den EU-Haushalt. Hinzu kommt: Die Staats- und Regierungschefs wollen mehr in gemeinschaftliche Aufgaben investieren - im Gespräch sind bis zu zehn Milliarden Euro. Doch woher soll das Geld kommen? Die Rechnung von EU-Haushaltskommissar Günther Oettinger geht so: Das Brexit-Loch will er zur Hälfte mit frischem Geld aus den EU-Staaten stopfen; die andere Hälfte sollen Kürzungen bei Struktur- und Agrarhilfen bringen. Bei den neuen Ausgaben gilt die Formel: 20 Prozent Einsparungen im Haushalt, der Rest soll von den EU-Staaten kommen. Bislang zahlen diese ein Prozent ihrer Wirtschaftsleistung in den EU-Haushalt ein, insgesamt 150 Milliarden Euro pro Jahr. Oettinger will den Beitragssatz auf "1,1x Prozent" steigern. Deutschland müsste dann ab dem nächsten siebenjährigen Haushaltsrahmen von 2021 an etwa sechs Milliarden Euro mehr zahlen. Alexander Mühlauer

Immerhin waren es die beiden höchstpersönlich, die hier die Verhandlung geführt haben. Und die Platzierung der Europapläne gleich an erster Stelle zeugt von der Bedeutung, die beide Seiten dem Thema geben. Was in Brüssel wiederum zu Stoßseufzern der Erleichterung geführt hat. Es gebe nun - Koalitionsbildung immer vorausgesetzt - eine "hervorragende Grundlage" für zentrale EU-Reformen.

Allerdings kommt es schon sehr darauf an, wer das Berliner Papier liest und wie. Da ist etwa die Rede davon, man müsse die EU "in ihrer Handlungsfähigkeit" stärken, "insbesondere auch das Europäische Parlament". Das können abgedroschene Floskeln sein oder aber die Chiffre für die Zustimmung zur Forderung Junckers, in Fragen des Binnenmarktes im Rat öfter mit qualifizierter Mehrheit zu entscheiden "unter gleichberechtigter Mitwirkung des Europäischen Parlaments". Der Text, der "Aufbruch" verspricht, ist voller Prozesssprache. In die flüchtet man sich, wenn man sich nicht festlegen mag oder kann. Oder, wie ein Berliner Mitsondierer sagt: "Wir sind ja auch für eine immer enger zusammenwachsende EU. Wann das geschieht, ist eine andere Sache."

Besonders spannend wird die Textarbeit, wenn es um die Weiterentwicklung des ESM von einem riesigen Geldtopf für den Notfall in der Eurozone zu einem Europäischen Währungsfonds geht. Bedeutet die Anlehnung an Junckers Worte gar, dass man inhaltlich gleicher Meinung ist? Die EU-Kommission hat am 6. Dezember einen konkreten Vorschlag für einen Europäischen Währungsfonds unterbreitet. Kann der nun als akzeptiert gelten?

Brüssel frohlockt

In Brüssel jedenfalls wird der Satz im Sondierungspapier als "klug formuliert" gepriesen. Zwar ist da von "parlamentarischer Kontrolle" die Rede und von der Verankerung im EU-Recht, aber die für Deutschland verfassungsrechtlich so wichtige Aufsicht des Bundestages über den Geldtopf stellt das eher nicht in Frage, auch wenn genau diese Sorge nun in Berlin zu hören ist. Selbst im Vorschlag der Kommission wird betont, dass die "gegenwärtigen finanziellen und institutionellen Strukturen" mit Blick auf "die Rolle der nationalen Parlamente im Wesentlichen gewahrt" bleiben sollen.

Das Sondierungspapier ist nicht einmal da eindeutig, wo es glasklar klingt. "Wir sind auch zu höheren Beiträgen Deutschlands zum EU-Haushalt bereit", steht da. Aber: Was genau wird mit dem Geld angestellt? Wer kontrolliert die Ausgaben? Sechs Zeilen weiter erhält die Fantasie freien Lauf: Mehr Geld für "die Aufgaben der EU" - das wäre der Haushalt, den man bereits kennt. Dazu kommen "spezifische Haushaltsmittel" für die Eurozone, ein "Ausgangspunkt für einen künftigen Investivhaushalt" der Eurozone.

Das klingt zwar sehr nach einem eigenen Eurozonenbudget, wie vom französischen Präsidenten Emmanuel Macron gefordert. Wer nicht im Euro ist, kriegt nichts. Aber ein "Ausgangspunkt" ist eben womöglich nicht mehr als ein vages Versprechen. In der EU werden die Zeilen deshalb auch eher als Unterstützung für Juncker und seinen Haushaltskommissar Günther Oettinger verstanden. Beide wollen einen Eurozonen-Topf im bestehenden Haushalt. Es sollen möglichst wenige Parallelstrukturen entstehen.

Nach Vorstellung der Sondierer soll das zusätzliche Geld nicht nur für Investitionen, sondern auch für "soziale Konvergenz" und "Strukturreformen" ausgegeben werden - eine Passage, die all jenen Hoffnung macht, die sich etwa eine Vergemeinschaftung der Risiken bei einer Bankenunion erhoffen. Aber gemach, zwei Absätze später kommt die Auflösung: Risiko und Haftung bleiben verbunden, wer auf hohen Gewinn spielt, muss auch mit hohem Verlust rechnen.

Dies ist ein Leitmotiv des Papiers: von allem etwas und viel Luft für Spekulationen. Der Grundton ist positiv und dynamisch, bei der Umsetzung aber geht's ans Eingemachte. Das ist auch so beim Thema Soziales. Gefordert wird die Kodifizierung sozialer Grundrechte in einem "Sozialpakt". Das klingt nach der Vergemeinschaftung der Sozialpolitik, ein alter Traum sozialistischer Parteien Westeuropas. Der Traum dürfte allerdings erst mal einer bleiben, denn die Sozialsysteme der Mitglieder könnten unterschiedlicher nicht sein. Besonders das deutsche Modell ist hoch entwickelt und müsste, sollte es den anderen angepasst werden, vermutlich große Errungenschaften wie das Mitbestimmungsmodell oder Teile der Sozialfürsorge preisgeben. Das wird Schulz nicht gewollt haben. Unvorstellbar, weil unbezahlbar wiederum ist, dass alle 26 anderen Mitglieder ihre Sozialpolitik dem deutschen Niveau anpassen.

Auf zahlreiche Fragen, die Macron in seiner großen Europarede aufgeworfen hat, gibt das Sondierungspapier erst einmal gar keine Antwort - etwa zur Größe der EU-Kommission oder zu EU-weiten Listen bei der Europawahl. Der Freude in Brüssel tut das keinen Abbruch. Gerade in seiner Offenheit gilt das Papier als brauchbare Basis. Für Koalitionsverhandlungen lautet die Empfehlung: einfach so lassen.

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