Europa:Gedankensplitter ohne Limit

Europa: Régis Debray: Lob der Grenzen. Aus dem Französischen von Nicole Neumann, Laika-Verlag, Hamburg 2016, 58 Seiten, 9,80 Euro.

Régis Debray: Lob der Grenzen. Aus dem Französischen von Nicole Neumann, Laika-Verlag, Hamburg 2016, 58 Seiten, 9,80 Euro.

Der französische Philosoph Régis Debray hält ein "Lob der Grenzen". Sein Essay, neu aufgelegt im Angesicht der Flüchtlingskrise, hat allerdings viele Schwächen. Die Argumentation bleibt im Metaphorischen.

Von Rudolf Walther

Durch die Dynamik der Flüchtlingsbewegungen sind die EU-Grenzregime ("Schengen", "Dublin") in eine Krise geraten. Grenzen sind deshalb aus guten und weniger guten Gründen zum Thema geworden. Der französische Philosoph Régis Debray hat eben seinen Essay "Lob der Grenzen" vorgelegt, der auf einem Vortrag in Tokio beruht, den er 2010 - also noch vor den Fluchtbewegungen aus Syrien und Nordafrika - gehalten hat. Die plakative Rede von der "Aufhebung der Grenzen" hält Debray für "eine dumme Idee".

Da wird man ihm kaum widersprechen, obwohl die Begründung, die Debray für seine These liefert, nicht überzeugt. Im Grunde besteht der Essay nämlich nur aus assoziativen und atemlos herzitierten Aperçus ohne argumentativen Zusammenhang, dafür mit problematischen normativen Voraussetzungen. So meint er etwa, die Insellage bewahre Staaten vor der Gefahr, "zerstückelt" zu werden, und verleihe ihnen ein "Stück Homogenität". Das ist nichts weiter als ein abgestandener Ladenhüter aus dem Arsenal geopolitischer "Theorien". Deren Status als Wissenschaft ist ungeklärt. Die meisten Ansätze naturalisieren nur politische und militärische Interessen, so, als ob ein Staat eine Kriegsmarine bräuchte, weil er von Wasser umgeben ist. Abstrus ist die Vermutung der Homogenität von Inselstaaten. Irland und Zypern - Debrays Beispiele - sind von Spaltung und Bürgerkrieg erschüttert.

Aneinandergereihte Gemeinplätze, die natürliche, historische, ethnische, religiöse, kulturelle und sprachliche Unterschiede zu einem Brei vermischen, geben keine kohärenten Gründe her für Grenzen: "Jede Kultur hat ihre Ausprägung. Manche haben den Bart, andere die heilige Kuh, die Robbe auf dem Teller, die Halterung am Penis."

Auch die Frage, wozu Grenzen dienen, beantwortet der Autor nur mit medizinischem, physikalischem, chemischem, biologischem und kosmologisch-religiösem Allerlei. Das "Heilige" bedarf eines "abgeschlossenen Raumes" wie der Embryo des Mutterleibes, aber zum "glücklichen Aufenthalt" gehören "Schlupflöcher, Öffnungen: Ausfallpforten, Labyrinthe, der Gebärmutterhals zur mütterlichen Muschel". Grenzen sind "der vorgeschobene Kampf des Geschlossenen gegen das Offene" und diese beiden bilden zusammen "ein Tandem, genauso unzertrennlich wie warm und kalt, Schatten und Licht, maskulin und feminin, Erde und Himmel". Dem Problem der Grenzen - in der Politik, in den Wissenschaften, in der Kultur und im Alltag - kommt Debray damit nicht einmal nahe.

Rudolf Walther ist freier Publizist. Sein vierter Essayband erschien unter dem Titel: "Aufgreifen, begreifen, angreifen", Münster 2014 (Oktober Verlag).

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