Europa:Nie hatten wir so viel zu verlieren wie heute

Europa: Proeuropäische Demonstranten beim "March for Europe" anlässlich des 60. Gründungstags der Europäischen Wirtschafts-gemeinschaft im März 2017 in Brüssel.

Proeuropäische Demonstranten beim "March for Europe" anlässlich des 60. Gründungstags der Europäischen Wirtschafts-gemeinschaft im März 2017 in Brüssel.

(Foto: AFP)

Die EU böte Anlass, tagelang von ihr zu schwärmen. Die Menschen verdanken ihr so viel. Welche Partei traut sich endlich wieder, ihnen das zu sagen?

Kommentar von Detlef Esslinger

Falls einem das Leben in Europa nun reichen sollte, wo wäre es besser? Falls man gar aus Europa fliehen müsste, wohin würde man wollen? Würde man die Balkanroute nehmen, oder die über Lampedusa? Würde man im Ernstfall lieber ertrinken oder lieber erfrieren wollen?

Was für absurde Fragen. 25 Millionen Menschen sind weltweit außerhalb ihres Landes auf der Flucht, das sind so viele, wie in Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen zusammen leben. Krieg, Verfolgung, Armut, Hunger? In Europa haben dies nur die Vorfahren erlitten, jahrhundertelang. Friede auf diesem Kontinent war für sie so vorstellbar, wie es derzeit Friede in Nahost ist. Dass Deutsche, Franzosen oder Dänen heute all das Elend nicht erleiden müssen; dass sie, im Gegenteil, so reich und so frei sind und so lange leben wie keine Generation zuvor (und wie nur eine Minderheit ihrer Zeitgenossen anderswo) - woran liegt es, wenn nicht an der Europäischen Union? Es ist ein unerhörtes Glück, nach 1945 in Westeuropa oder auch nach 1989 in Osteuropa geboren zu sein.

Wenn man von der EU schwärmen will: Wo soll man anfangen, wo soll man aufhören? Bei 73 Jahren Frieden? Bei dem Umstand, dass es im Prinzip egal ist, wenn man neulich in Belgien seinen Ausweis liegen gelassen hat, nächste Woche aber nach Tschechien reisen will? Es gibt ja keine Grenzkontrollen mehr. Dass man als junger Mensch beschließen kann, ein Jahr in Florenz oder Kopenhagen zu studieren, und dafür gibt es sogar noch Geld: Wie wunderbar ist das denn? Dass man in Griechenland und Schweden telefonieren und googeln kann, ohne Zusatzkosten? Dass 19 Länder dieselbe Währung haben, dass man nicht mehr umständlich Geld tauschen und dabei Geld verlieren muss; dass all die schicken Maschinen und Autos, die die Deutschen so produzieren, etwa um ein Viertel billiger sind, als wenn es diesen Euro nicht gäbe? Dass auch deshalb hier so viele Menschen Arbeit haben wie noch nie?

Die Europäische Union umfasst heute 28 Staaten, von Kiruna im Norden Schwedens bis nach Malaga im Süden Spaniens sind es fast 5000 Kilometer. Es ist eine Union, die ohne einen einzigen Schuss zustande gekommen ist; es hat gereicht, dass die Europäer sie wollten. Oberhalb von Rüdesheim gibt es das Niederwalddenkmal, man kann mit dem Sessellift hinauffahren. Heute eine harmlose Vergnügung. Gebaut aber wurde es im 19. Jahrhundert, nach einem der vielen deutsch-französischen Kriege: Die Germania hält Wacht am Rhein. Heute nimmt man die Statue als das, was sie ist - ein Relikt aus einem Land vor unserer Zeit. Nun gibt es, rheinaufwärts, die deutsch-französische Brigade. Mehr Symbol, mehr Verwirklichung von einst Utopischem geht kaum.

Sind die meisten der Probleme, vor denen die EU heute steht, nicht überschaubar?

Wäre das alles nicht ein Stoff, den man erzählen sollte, jeden Tag von Neuem und mit neuen Beispielen? Sind die meisten der Probleme, vor denen die EU heute steht, nicht überschaubar, zumindest im Vergleich zu denen, die sie bereits gelöst hat? Welche Politiker aus welchen Parteien könnten wagen, was in Wahrheit doch kein Wagnis wäre: all jenen Menschen eine Stimme zu sein, die für Engherzigkeit und Angst wenig Anlass sehen, und die ganz genau wissen, dass (zum Beispiel) Bayern ihre Heimat ist, Deutschland ihr Vaterland und Europa ihre Zukunft?

Es ist nicht ohne Ironie, dass die CSU für eine solche Erzählung vorerst nicht mehr infrage kommt: obwohl dieser Dreiklang eine Formulierung von Franz Josef Strauß ist, ihrem Heiligen, und obwohl sie Manfred Weber hat, den Vorsitzenden der Christdemokraten im Europäischen Parlament, der Europa derart gut erklären kann, dass man danach eigentlich gar keine Notwendigkeit für einen nationalen Pass mehr sieht. Doch nach dem Spektakel der vergangenen Wochen und solange Markus Söders Abgesang auf den "geordneten Multilateralismus" - also auf die EU - im Raum steht, braucht die CSU keine Europahymne mehr ins Programm zu nehmen. Die CDU? Dazu müsste Angela Merkel endlich zur Dolmetscherin ihrer Politik werden; ein Talent jedoch, das ihr nicht gegeben ist. Die Grünen? Sie werden normalerweise immer nur ihre Kernklientel erreichen, also die ohnehin schon Überzeugten. Wer traut sich?

Welche Partei hat die Tradition, an die sie nun anknüpfen könnte? Weil sie sich als erste, in den Siebzigerjahren, für Osteuropa interessiert hat; weil sie, ebenfalls bereits damals, das Fundament für den Euro legte. Welche Partei bräuchte zudem sehr dringend eine neue Erzählung, die sie den Menschen anbieten kann, anstatt sich immer nur im Kampf mit den Ungetümen Hartz, Mietpreisbremse und sachgrundlose Befristung aufzureiben? Und hat diese Partei nicht eine neue Vorsitzende, deren Kerndisziplinen doch Temperament und Leidenschaft sind?

Jetzt bräuchte es nur noch Überzeugung sowie die Courage, diese zu vertreten. Es gäbe eine Marktlücke zu erobern. Also, worauf wartet die SPD?

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