Europa:Das Europäische Parlament, eine "Brutstätte sexueller Belästigung"

European Parliament member Terry Reintke holds a placard with the hashtag 'MeToo' during a debate to discuss preventive measures against sexual harassment and abuse in the EU at the European Parliament in Strasbourg

Die deutsche Grünen-Abgeordnete Terry Reintke während der Debatte in Straßburg.

(Foto: Christian Hartmann/Reuters)
  • Das Europaparlament befasst sich mit dem Thema sexuelle Übergriffe - auch in den eigenen Reihen.
  • Mehr als ein Dutzend Mitarbeiterinnen von Abgeordneten beklagen sexuelle Belästigung durch ihre Chefs.
  • In der Debatte zeigt sich darüber Empörung, aber wenig Überraschung.

Von Daniel Brössler und Alexander Mühlauer, Brüssel

Auch Eleonora Forenza. "Ich war 19 Jahre alt und an der Uni. Er war ungefähr 60 Jahre alt. Er war Professor, Intellektueller", erinnert sich die italienische Europa-Abgeordnete von der Linken. Auf einem großen Zettel vor ihr steht: "#Me too". Die Welle der Empörung, die der Fall des Filmproduzenten Harvey Weinstein weltweit ausgelöst hat, ist im EU-Parlament in Straßburg angekommen. Im Plenum wird debattiert über die Bekämpfung von sexueller Belästigung und Missbrauch in der EU. Doch es geht nicht nur darum, was in den 28 Staaten der Union geschieht, sondern auch darum, was offenbar mitten im Zentrum der europäischen Demokratie vor sich geht.

"Dieses Parlament ist eine Brutstätte der sexuellen Belästigung"

"Hier im Europäischen Parlament sollten wir eigentlich an einem der besten Arbeitsplätze der Welt sein", sagt die griechische Linke Kostadinka Kuneva. Ein Bericht der britischen Zeitung Sunday Times allerdings hat diese Vorstellung nachhaltig erschüttert. Mehr als ein Dutzend Mitarbeiterinnen von Abgeordneten beklagen sich demnach über sexuelle Belästigung durch ihre Chefs.

Von Übergriffen im Aufzug ist da die Rede, von SMS-Nachrichten mit sexuellen Anspielungen und von der Angst, sich gegen die mächtigen Arbeitgeber zur Wehr zu setzen. Die Täter stammten aus dem ganzen politischen Spektrum des Parlaments, heißt es in dem Bericht, einige von ihnen seien frühere Minister.

Namentlich genannt wird nur der frühere französische Umweltmister Yves Cochet von den Grünen. In einer SMS soll er einer 25-jährigen Assistentin angeboten haben, "Passionen, Träume und Fantasien" mit ihr zu teilen. Klagen soll es auch über zwei deutsche EU-Abgeordnete gegeben haben, einer von ihnen angeblich in "führender" Position. Das EU-Parlament, so heißt es, sei eine "Brutstätte sexueller Belästigung".

In der Debatte zeigt sich darüber Empörung, aber wenig Überraschung. Der französische Sozialist Edouard Martin, einer der wenigen Männer, die sich zu Wort melden, äußert die Vermutung, dass es um die Zustände im EU-Parlament nicht schlechter, aber eben auch nicht besser bestellt ist als anderswo. "Dieses Parlament ist ein Spiegel der Gesellschaft", sagt Daniela Aiuto, Fünf-Sterne-Politikerin aus Italien. In ihrer Forderung nach "null Toleranz" für Übergriffe ist sie sich einig mit den anderen Rednerinnen und Rednern. Das Thema ist eines der wenigen, das über die zum Teil scharfen Parteigrenzen im EU-Parlament hinweg zu verbinden scheint.

Es gibt schon einen neuen Hashtag

Allerdings hat das Grenzen. "Sexuelle Belästigung sollte niemals toleriert werden, ob in den Straßen von Köln oder in den Korridoren der Macht in Brüssel", fordert David Coburn von der britischen Ukip in Anspielung an die Ereignisse an Silvester 2015. Und er attackiert die belgische Abgeordnete Hilde Vautmans, die Ost-und Südeuropäer als besonders anfällig für Übergriffigkeit bezeichnet habe. "Ich habe nur gesagt, dass wir hier im Parlament einen Mix der Kulturen haben. Einige Kulturen sind offener und wärmer", rechtfertigt sich die Liberale. In einigen Kulturen sei es eben üblicher, andere zu berühren.

"Sexuelle Belästigung ist in ganz Europa weit verbreitet", stellt die deutsche Grüne Terry Reintke klar. Die "schockierenden Berichte" über die Vorfälle im Parlament seien für die Abgeordneten Verpflichtung zum Handeln. Im Hohen Haus selbst gibt es allerdings ein offenkundiges Problem: Es existiert zwar ein zuständiger Ausschuss, an den sich betroffene Frauen wenden können. Doch seit 2014 wurden nur zehn Fälle gemeldet. Dass es weitaus mehr gibt, zeigt allein schon der Aufruf des Online-Magazins Politico: Am Mittwochmorgen hatten bereits mehr als 30 Betroffene ihre Erfahrungen geschildert.

Im Straßburger Plenum stellt die EU-Kommissarin Cecilia Malmström deshalb klar: "Das Problem hat nicht mit der Me-Too-Bewegung begonnen, sexuelle Belästigung gibt es seit Jahrhunderten." Und doch gebe es nun ein mächtiges Momentum, auch politisch etwas zu verändern. Es existierten zwar allerlei Richtlinien in der Europäischen Union, sagt Malmström. Aber es gehe nun eben darum, sie auch anzuwenden und vorzuleben.

Insbesondere die sogenannte Istanbul-Konvention, ein Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt. Dieser völkerrechtliche Vertrag wurde 2011 erarbeitet und seither von mehr als von 40 Staaten unterzeichnet. Deutschland ratifizierte den Vertrag erst in diesem Monat.

Über eine Stunde lang diskutieren die Abgeordneten in Straßburg. Am Ende sind sich alle Fraktionen einig: Die Vorwürfe und die bestehenden Beschwerdemöglichkeiten im Parlament müssen von externen Experten überprüft werden. Am Donnerstag soll über eine entsprechende Resolution abgestimmt werden. Die liberale österreichische Abgeordnete Angelika Mlinar hat dafür schon einen neuen Hashtag parat: #notme.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: