Europa:Bayern-Wahlkampf erfasst Brüssel

Over 6,000 Migrants Crossing Into Bavaria Daily

Oktober 2015: Flüchtlinge überschreiten die deutsche Grenze. Solche Szenen will die CSU künftig verhindern.

(Foto: Sean Gallup/Getty Images)
  • Auch in Brüssel sorgt die deutsche Regierungskrise mit dem Streit um die Asylpolitik für Aufregung.
  • Unter engen Voraussetzungen hält man dort eine Zurückweisung von Migranten an der Grenze grundsätzlich für möglich.
  • Europapolitiker fürchten aber, die CSU würde damit das Ende des Schengen-Raums einleiten.

Von Thomas Kirchner, Brüssel

Die deutsche Regierungskrise donnert wie ein Unwetter über Brüssel. Sie hat die meisten kalt erwischt, man wähnte Angela Merkel einigermaßen sicher in ihrer Position. Nun schwirren besorgte Fragen durch die Stadt: Was bedeutet das für Europa, schließt der mächtigste Mitgliedstaat seine Grenzen, bricht jetzt alles auseinander? Und wie kann es sein, dass eine bevorstehende deutsche Landtagswahl den Kontinent ins Wanken bringt?

Unwissen schürt die Nervosität noch, wie sich etwa im Pressesaal der EU-Kommission zeigt. Dort geht es oft hoch her. Aber hat es jemals eine solche Brüllerei gegeben wie an diesem Freitag? Ein italienischer Journalist bittet um Antworten auf zwei simple Fragen: Dürfen die EU-Staaten machen, was die CSU fordert, also Migranten, die anderswo um Asyl gebeten haben, an der deutschen Grenze zurückweisen? Und dürfen sie bilaterale Verträge schließen, wie sie Bundeskanzlerin Angela Merkel nun mit einigen Nachbarländern oder Außengrenzstaaten in Aussicht stellt, um Rücknahmen zu organisieren?

Ein Kommissionssprecher will die Dublin-Verordnung nicht interpretieren

Kommissionssprecher Margaritis Schinas steckt im Dilemma. Sagte er Ja oder Nein, bezöge er Stellung in einem hochexplosiven innenpolitischen Streit. Also drückt er sich, indem er schlicht das geltende Recht zitiert, die Dublin-Verordnung. Sie behandelt die Frage, wer für den Antrag von Asylbewerbern zuständig ist. Es ist keine wirkliche Antwort, aber auch auf mehrmalige Nachfrage weigert sich Schinas, den Verordnungstext zu interpretieren. "Das können Sie selber machen, wenn Sie wieder in der Redaktion sind."

Der Italiener empört sich, beschuldigt den Sprecher, vor der deutschen Regierung zu kuschen, und stürmt wütend aus dem Saal. Die Kollegen protestieren ebenfalls, attackieren Schinas immer heftiger. Aber es hilft nichts, der Mann bleibt stur. Die Sache werde ein zentrales Thema auf dem Gipfel Ende Juni sein, sagt er nur, die Bausteine für eine Lösung lägen bereit, die EU-Staaten müssten sich nur noch einigen.

Zwei Voraussetzungen würden Zurückweisungen theorethisch ermöglichen

Erst hinterher erfährt man aus Kommissionskreisen Näheres. Demnach ist die Abweisung à la CSU theoretisch möglich. Allerdings nur unter zwei Voraussetzungen: Eine davon wäre, die vor fast drei Jahren eingeführten vorübergehenden Kontrollen an der Grenze zu Österreich quasi dauerhaft zu machen. Und dies, obwohl Deutschland laut Kommission eigentlich zugesagt hat, die Kontrollen nicht noch einmal zu verlängern, weil dies vermutlich das Ende des grenzfreien Schengen-Raums bedeuten würde.

Zum Zweiten müsste die Bundesregierung ein im Schengen-Code vorgesehenes spezielles Schnellverfahren an der Grenze anwenden. Demnach könnte der Status von Einreisenden, die um Asyl bitten, innerhalb von vier Wochen direkt an den Übergängen statt in Auffangstellen im Landesinneren ermittelt werden. Das beinhaltet unter anderem eine Nachfrage in der Eurodac-Datenbank sowie eine Kontrolle, ob der Migrant familiäre oder andere nähere Beziehungen zu Deutschland hat. In dieser Zeit müssten die Betroffenen am Kontrollpunkt untergebracht, festgehalten und verpflegt werden.

Ungarn wendet diese Methode schon an, allerdings nur an der Grenze zu Serbien, das nicht Mitglied von Schengen ist. Zulässig sind auch die bilateralen Abkommen. Jenes zwischen Frankreich und Italien deckt aber nur Nicht-Dublin-Fälle ab, also Migranten, die weder Asyl begehren noch anderswo beantragt haben. Das Dublin-Problem wird durch solche Abkommen folglich nicht gelöst.

Einige befürchten einen Domino-Effekt

Die rechtliche Situation ist kompliziert. Die geplante Reform des Asylsystems mache, wenn sie endlich angenommen würde, alles besser und klarer, beteuert die Kommission. Im Moment ist nur eines klar: Bekäme die CSU ihren Willen, wäre es schnell vorbei mit dem Europa ohne Grenzen. "Den Schaden hätten alle", warnt der niederländische Migrations-Staatssekretär Mark Harbers, "Pendler, Touristen, Lkw-Fahrer."

Außerdem entstünde der befürchtete Domino-Effekt: Wenn Deutschland zusperrt, folgt Österreich, und am Ende bleiben Griechen und Italiener auf den Migranten sitzen. "Deshalb können wir uns nicht nur auf die Außengrenzen konzentrieren", sagt ein EU-Diplomat, "sondern müssen auch die Verteilungsfrage lösen." Das soll auf dem Gipfel gelingen, ist aber höchst unwahrscheinlich. Eine echte Lösung werde es wohl erst nach den Europawahlen im kommenden Jahr geben können, heißt es in Brüssel.

Bis dahin kann alles anders sein. Sollte Merkel stürzen, gewännen die illiberalen Kräfte in der EU, die Grenzschließer und Durchgreifer, wohl endgültig die Oberhand, befürchten viele - nicht zuletzt die französische Regierung, die den Berliner Vorgängen mit offenem Mund zuschaut.

Die andere Sorge ist noch größer, sie bezieht sich auf das gesamte europäische Projekt, das in Gefahr gerät. "Das Letzte, was die EU angesichts der Lage in der Welt gebrauchen kann, ist eine Regierungskrise in Deutschland", sagt ein zweiter EU-Diplomat. "Was gerade passiert, können wir uns nicht leisten."

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