Europa:In Europa ist Anti-Pfingsten angebrochen

Demo gegen Grenzkontrollen am Brenner, 2016

Österreicher besinnen sich aufs Österreichsein: Polizisten am Brenner-Grenzübergang.

(Foto: Sonja Marzoner)

Die Pfingstgeschichte erzählt auch von einer "guten" Globalisierung, in der man sich versteht, ohne gleichförmig zu werden. Europa erlebt gerade das Gegenteil - es zerbricht in viele kleine Wirs.

Kommentar von Heribert Prantl

Das Fest gehört fest zur christlich-abendländischen Kultur, aber viele Menschen können mit Pfingsten nicht mehr viel anfangen. In der Bibel werden die pfingstlichen Erscheinungen als "Feuerzungen" und "gewaltiges Brausen" beschrieben; wie sich solche Effekte heute darstellen, bewunderten am Samstagabend 200 Millionen Fernsehzuschauer in Europa und den USA - beim Eurovision Song Contest. Beide Events verbindet nicht viel, aber immerhin: Pfingsten war und der Song Contest ist ein Massenereignis mit spektakulärer Inszenierung. Das biblische Pfingsten soll ein internationales heiliges Großspektakel gewesen sein, das ohne jede Sprachschwierigkeiten funktionierte. Letzteres ist beim Song Contest auch so, wie die gewaltige Zuschauerzahl lehrt.

Globalisierung im Kleinen beim ESC

In der Bibel sind es zwölf Apostel, die aus dem Haus, in dem sie sich versteckt hatten, hinaus auf Straßen und Plätze eilen, dort ihre großen Auftritte haben, Tausende Menschen taufen und erstaunlicherweise von Inländern und Ausländern gleichermaßen verstanden werden. Beim Song Contest sind es Sängerinnen und Sänger aus 42 Ländern, die auf die Bühne steigen, weltweit verstanden und mit Staunen betrachtet werden. Fast alle singen in derselben Sprache und im selben Gestus. Im Fall der Apostel wird das Sprachwunder dem Wirken des Heiligen Geistes zugeschrieben, der auf alten Gemälden als Taube gezeigt wird. Ihn auch beim Song Contest ins Spiel zu bringen, wäre ein Irrflug. Die Popularität des Song Contest beruht weniger auf Geist denn auf einer retortenhaften Paradiesvogelartigkeit der dortigen Auftritte.

Der große Song Contest zeigt im Kleinen, wie heute Globalisierung funktioniert. Und auch das biblische Pfingsten ist eine Globalisierungsgeschichte, eine sehr alte, vielleicht die erste. Man muss diese Geschichte, die nicht mehr so präsent ist, etwas genauer erzählen: Die Jünger des hingerichteten Jesus hatten sich fünfzig Tage lang ängstlich versteckt; aber auf einmal werden sie wie aus dem Nichts von einer Inspiration, einer Geistkraft ergriffen, die sie wie ein Sturm überkommt. Die Männer sind nicht gebildet, sie sind keine Künstler, keine Politiker, keine Diplomaten; sie sind auch nicht sprachenkundig. Aber nun sprechen sie zu einer Menschenmenge aus aller Herren Länder; und es geschieht etwas, was diese Geschichte so wundervoll macht: Jeder hört diese Männer in seiner Sprache reden. Sie sprechen in anderen Zungen, heißt es. Es ist nicht so, dass der Geist ihnen schnell Fremdsprachen eingetrichtert hätte; sie haben vielmehr die Gabe, über alle Sprachbarrieren hinweg Menschen aller Nationen und Kulturen zu erreichen.

Unter feurigem Geglitzer weht ein trostloser Geist, der die Welt eintöniger macht

Es ist dies ein Idealbild von Globalisierung: Alle behalten ihre Eigenheiten, alle bleiben verschieden; es gibt aber ein gemeinsames Verständnis, einen gemeinsamen Geist, aus dem ein Wir-Gefühl entsteht. Man nennt dieses Urereignis die Geburtsstunde der Kirche. Die Gemeinschaft, die da geboren wird, entsteht auf der Basis eines gemeinsamen Glaubens, jenseits von Nation, Familie, Ethnie, Klasse; wie gesagt - ein Ideal. In der Pfingstgeschichte wird eine Globalisierung propagiert, die nicht die Uniformierung der Welt ist, sondern Verständigung in der Verschiedenheit. Die neuere Globalisierungsgeschichte zeigt aber etwas ganz anderes: Unter feurigem Geglitzer weht ein trostloser Geist, der die Welt eintöniger macht. Das Spektakel ist nur Hülle der Allerweltsprodukte. Das vermeintlich Individuelle ist nur eine Spielart des Ewigselben.

Der europäische Geist verliert Kraft

Es wächst eine globale Wirtschaft, es wächst mit ihr eine Massenkultur; und das Wachstumsprinzip heißt: Alle Menschen werden Kunden. Allein die Allerweltsmenschenrechte, die Menschenrechte also, die in aller Welt gelten, wachsen nicht. Die Welt wächst zusammen, aber nicht als internationale Rechtsgemeinschaft, nicht als interkulturelle Kommunikationsgemeinschaft, sondern als Konsumgemeinschaft in einer globalen Marktkultur. Man wünschte sich einen anderen, einen menschenfreundlicheren Geist.

Stattdessen erhebt sich ein Ungeist; er braust noch nicht, aber er weht schon kräftig: In Europa ist Antipfingsten angebrochen. Die Engländer besinnen sich auf ihr Englischsein, die Schotten auf ihr Schottischsein, die Ungarn auf ihr Ungarischsein, die Österreicher auf ihr Österreichischsein, immer mehr Deutsche auf ihr Deutschsein. Der europäische Geist verliert Kraft. Das pfingstliche Europa, das Europa des Wir-Gefühls in Sicherheit und Recht zerbröckelt in der Flüchtlingskrise. Das große Wir zerlegt sich in immer kleinere Wirs.

Das neue Wir heißt: wir Franzosen, wir Polen, wir Tschechen

Im Haus Europa sind die Bewohner dabei, sich in die Penthäuser, Zimmer und Apartments zu verziehen. Sie lassen Rollläden herunter, machen dicht. Die Fremden, heißt es, gehören nicht zu "uns". Das neue Wir heißt: wir Franzosen, wir Polen, wir Tschechen. Vorsicht vor diesem Wir! Eine EU-Verfassung, wie sie schon ganz nah war, und die mit der Präambel "Wir, die Völker Europas" beginnen müsste - sie ist auf einmal so weit weg. Das neue Wir zieht wieder Grenzen. Der europäische Atem bekommt den Mundgeruch des alten Nationalismus; der europäische Geist verspießert. Die Identität des Menschen in der antipfingstlichen Variante gibt sich aus als etwas, das dem Ole in Oslo und dem Ali in Aleppo in die Wiege gelegt sei: "Wir" sind wir, und "die" sind die; sie sollen auch als Flüchtlinge bleiben, wo sie hingehören: auf dem Boden, den ihnen die Natur zugeteilt hat.

Es ist kurios, dass sich der Abschottungs-Ungeist in Europa als christlicher Geist aufbläst, der das christliche Abendland retten soll. Weil Pfingsten ist, darf es gesagt sein: Der kühne Gedanke der ersten Christen war ein anderer. "Es gibt nicht mehr Juden und Griechen, Sklaven und Freie - denn ihr alle seid 'eins' in Christus." Das ist ein Satz von Paulus, der Völkerapostel genannt wird, weil er den christlichen Glauben nach Europa brachte. Den Juden sei er ein Jude und den Griechen ein Grieche geworden, sagte er von sich. Die vermeintlich natürlichen Identitäten werden nicht anerkannt. Das ist christliche und humanistische Identität.

Ein in diesem Geist (nicht in einer Religion!) vereintes Europa wäre ein pfingstliches Europa.

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