Eurodistrict SaarMoselle:Hart an der Grenze

Francois Mitterand und Helmut Kohl in Verdun, 1984

Wie die grenzüberschreitende Zusammenarbeit ein wichtiger Markstein der deutsch-französischen Freundschaft: François Mitterrand und Helmut Kohl in Verdun im Jahr 1984.

(Foto: DPA)

So gut kann Europa im Alltag funktionieren: Im Eurodistrict SaarMoselle arbeiten deutsche und französische Bürgermeister über die Grenzen hinweg zusammen. Doch ausgerechnet hier wählen viele Franzosen rechtsextrem.

Von Lilith Volkert, Morsbach und Saarbrücken

Monsieur Schuh hätte gerne einen riesigen Radiergummi. Der Franzose möchte eine Linie verschwinden lassen, die zwar auf dem Asphalt nicht mehr sichtbar, in Köpfen und Paragrafen aber nach wie vor deutlich zu spüren ist: die Grenze zwischen Deutschland und Frankreich. Gilbert Schuh ist Bürgermeister im französischen Morsbach, gerade wurde er mit 902 zu 131 Stimmen wiedergewählt. Sein Rathaus liegt keine zwei Kilometer von der deutschen Grenze entfernt.

Der Franzose ist zudem Chef eines Versuchslabors, in dem der Idee vom vereinten Europa neues Leben eingehaucht werden soll. Als Präsident des Eurodistricts SaarMoselle widmet er zwei Tage pro Woche der grenzübergreifenden Zusammenarbeit. "Je weiter wir die Grenze ausradieren können, desto mehr profitieren wir davon", sagt der 60-Jährige.

recherche_artikel

"Weitermachen nach der Krise - was wird aus der europäischen Idee?" Diese Frage hat unsere Leser in der fünften Abstimmungsrunde unseres Projekts Die Recherche am meisten interessiert. Dieser Text ist einer von zahlreichen Beiträgen, die sie beantworten sollen. Alles zur Europa-Recherche finden Sie hier, alles zum Projekt hier.

Das sehen nicht alle so. Der Nachbarort Forbach hat im März um ein Haar einen Rechtsextremen zum Bürgermeister gemacht. Florian Philippot gilt als Chef-Stratege des Front National (FN) und Vertrauter von Parteichefin Marine Le Pen. Seine Gegnerschaft zur EU trägt die FN wie eine Monstranz vor sich her und verbittet sich somit regelmäßig die "Bevormundung" aus Brüssel.

Hehre Ziele, mühsamer Alltag

Auch am Anfang des Eurodistricts SaarMoselle stand ein politischer Wink aus weit entfernten Hauptstädten. Als der sozialdemokratische Kanzler Gerhard Schröder und der konservative Präsident Jacques Chirac 2003 den 40. Jahrestag des Élysée-Vertrags feierten, riefen sie zur Bildung von Eurodistricten auf. Die deutsch-französische Freundschaft, die einen symbolträchtigen Höhepunkt zuletzt beim gemeinsamen Gedenken von Kanzler Kohl und Präsident Mitterrand in Verdun hatte, sollte neuen Schwung bekommen. Es dauerte bis zum 6. Mai 2010, bis sich der Regionalverband Saarbrücken mit sieben französischen Gemeinde- beziehungsweise Stadtverbänden zu einem sogenannten Europäischen Verbund für territoriale Zusammenarbeit (EVTZ) zusammenschloss. So groß der politische Wille, so hoch auch die administrativen Hürden.

Ein Blick in den großen Aktenschrank von Gilbert Schuh lässt erahnen, wie mühsam das Geschäft ist. Der Franzose zieht einen Brief des deutschen Verkehrsministers Alexander Dobrindt aus einem Ordner und präsentiert ihn stolz. Die Schleuse im nahen Güdingen wird nicht wie geplant geschlossen, heißt es darin. Eine gute Nachricht für die vielen deutschen und französischen Ausflugsboote, die die Saar rauf- und runterschippern - und für die Vertreter des Eurodistricts, die sich gegen die Schließung ausgesprochen haben. "Hätte ihm nur ein einziger Bürgermeister geschrieben, hätte der Minister sich wohl nicht so leicht umstimmen lassen", sagt Schuh. "Durch den Eurodistrict haben wir alle mehr Gewicht."

Denn darum geht es: Auf beiden Seiten der Grenze gibt es ähnliche Probleme, die sich leichter lösen lassen, wenn eine Stimme für die 600 000 Menschen der Region spricht. Der Bergbau, von dem die Gegend jahrzehntelang lebte, ist verschwunden. Vor allem auf französischer Seite ist die Arbeitslosigkeit hoch, unter jungen Erwachsenen hat dort fast jeder Dritte keinen Job.

Trotz seiner großen Aufgabe widmet sich das Eurodistrict-Team vor allem den vermeintlich kleinen Dingen. Gilbert Schuh und seine Kollegen schritten ein, als die französische Eisenbahngesellschaft SNCF auf einmal Gebühren dafür verlangte, dass die Tram aus Saarbrücken im französischen Sarreguemines (Saargemünd) einfährt. Sie sorgten dafür, dass die Biogasanlage von Morsbach Essensreste aus der saarländischen Hauptstadt verarbeitet. Zu ihren Aushängeschildern gehören ein Kulturwochenende, eine neue Buslinie und ein Freizeitführer im Internet.

Machtlos gegen Gesetze aus Berlin und Paris

Stolz auf den Eurodistrict oder begeistert von seinen Errungenschaften sind die Menschen in der Gegend bislang nicht besonders. Der Grund dafür ist banal: Viele können mit dem Begriff nichts anfangen. "Keine Ahnung" oder "irgendwas mit Luxemburg" bekommt zu hören, wer Deutsche und Franzosen auf der Straße danach fragt - ein Problem, das auch der Eurodistrict Straßburg-Ortenau hat. Ein großes Projekt, das jeder mit dem Eurodistrict SaarMoselle verbindet oder das gar Identität stiftet, gibt es nicht. Und die kleinen Dinge, die den Alltag leichter machen, erscheinen vielen als selbstverständlich.

Gegen Gesetze, die im fernen Berlin und Paris gemacht werden und das Leben in einer Grenzregion erschweren, lässt sich außerdem wenig tun. Ein Beispiel: Fährt ein Deutscher mit dem Taxi nach Frankreich, wird das in der Regel geduldet. Lässt er sich später wieder abholen, kann es passieren, dass die französische Polizei dem Fahrer ein ordentliches Bußgeld verpasst - weil es kein Verkehrsabkommen zwischen Deutschland und Frankreich gibt. Auch in der Gesundheitsversorgung könnte die Kooperation besser sein: Wer in Forbach einen Herzinfarkt hat, wird ins 60 Kilometer entfernte Metz gebracht, obwohl es 15 Kilometer weiter, in Völklingen, ein renommiertes Herzzentrum gibt.

Warum feiern Antieuropäer Erfolge in der Grenzregion?

Indirekt wird der Eurodistrict auch vom Erfolg des ultrarechten Front National in Frankreich in Frage gestellt. Bei der Kommunalwahl im März haben in Forbach 35 Prozent für die Anti-Europäer gestimmt, bei den Parlamentswahlen vor zwei Jahren waren es 41 Prozent. Bei der Europawahl wird die Partei Umfragen zufolge stärkste Partei in der Region.

Warum wählen ausgerechnet Menschen, die stark von den Vorteilen eines grenzenlosen Europas profitieren, eine Partei, die den Euro abschaffen und wieder Schlagbäume errichten möchte? Viele sehen innenpolitische Gründe dafür. "Wenn die Leute früher unzufrieden waren, haben sie demonstriert, ein paar Reifen angezündet und sie wurden gehört", sagt Eurodistrict-Präsident Schuh. "Heute haben viele das Gefühl, mit ihren Anliegen nicht mehr ernst genommen zu werden." Dazu kämen die Unzufriedenheit mit der Politik des sozialistischen Präsidenten François Hollande, die schlechte wirtschaftliche Lage und Furcht vor der Zukunft.

Florian Philippot, Vizepräsident des Front National, Frankreich

Florian Philippot (r., bei einer Feier zum 1. Mai) wollte Bürgermeister von Forbach werden. Hätte er es geschafft, wäre das "fatal" für die grenzüberschreitende Zusammenarbeit gewesen.

(Foto: REUTERS)

Die Konservativen hätten die Gegend aufgegeben, sagt der Forbacher Bürgermeister, der Sozialist Laurent Kalinowski. Rechte Wähler würde nun der Front National auffangen.

Außerdem gibt es anscheinend eine seltsam gespaltene Wahrnehmung der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit vor Ort auf der einen und der Institution der Europäischen Union auf der anderen Seite. Der Forbacher FN-Kandidat Florian Philippot parlierte im Wahlkampf jedenfalls über die erfolgreiche Kooperation mit Saarbrücken und schimpfte über die EU, als habe das eine mit dem anderen nichts zu tun.

"Fatal für die grenzüberschreitende Zusammenarbeit"

Philippot als Bürgermeister wäre "fatal für die grenzüberschreitende Zusammenarbeit", sagte die Saarbrücker Oberbürgermeisterin Charlotte Britz (SPD) einer französischen Zeitung vor der Kommunalwahl. Nachdem der sozialistische Amtsinhaber das Rathaus von Forbach nun doch verteidigt hat, gibt sich die Vizepräsidentin des Eurodistricts kämpferisch. "Der Erfolg des Front National zeigt, dass die Leute unzufrieden sind und wir uns noch mehr dafür einsetzen müssen, dass sie die Vorteile unserer Zusammenarbeit erkennen", sagt die SPD-Politikerin.

Verlässt Britz ihr Büro im Saarbrücker Rathaus, ist sie in drei Minuten in der Fußgängerzone. Hier wird annähernd so viel französisch gesprochen wie deutsch, die Kaufhäuser richten sich gezielt nach den Vorlieben der ausländischen Kundschaft. Mit einer besseren Anbindung kämen noch mehr Arbeitskräfte und Konsumenten in die Stadt. Sicher ein Grund, warum Charlotte Britz die Sache auch pragmatisch sieht. Als Zweckverband kann der Eurodistrict auf europäische Gelder zuzugreifen und Projekte voranbringen, die der Stadt nutzen, etwa eine Trambahnlinie ins 15 Kilometer entfernte Forbach. Bisher geht jede Stunde ein Zug.

Besonders stolz ist Britz darauf, dass sich deutsche und französische Bürger für ein Leitbild gemeinsam Gedanken über die Aufgaben des Eurodistricts gemacht haben. Demnach soll er ein "regionales Bildungs- und Forschungsnetz" schaffen, alternative Energien fördern und ein gemeinsames Standort- und Tourismusmarketing ermöglichen. Auch wenn das Projekt Eurodistrict vier Jahre nach seiner Gründung noch ähnlich abstrakt wirkt wie die formulierten Ziele, ist Britz froh um die geschaffenen Strukturen und dass sich deutsche und französische Bürgermeister inzwischen so gut kennen: "Jeder kleinste Schritt in Richtung besserer Zusammenarbeit lohnt sich."

"Die Grenzen müssen weg, und Europa muss den Anfang machen"

Dass der Eurodistrict ein wichtiger und richtiger Schritt ist, findet auch Arno Krause, der Gründer der Europäischen Akademie Otzenhausen. "Der Eurodistrict zeigt, dass es möglich ist, nach und nach nationale Grenzen zu überwinden", sagt er. Ein Anliegen, das der 84-Jährige sein Leben lang verfolgt hat.

Als Jugendlicher musste er 1945 seine Heimatstadt Saarbrücken gegen die Amerikaner verteidigen, zusammen mit anderen Hitlerjungen wurde er von Jagdbombern beschossen. Die Erfahrungen haben ihn geprägt. "So ein Wahnsinn darf nicht mehr passieren, das wurde mir damals klar", sagt er. "Die Grenzen müssen weg, und Europa muss den Anfang machen."

Heute klingt Krause eher ernüchtert, wenn er über Europa spricht. Der Erfolg des Front National, aber auch das Verhalten der EU gegenüber afrikanischen Flüchtlingen und die Krise in der Ukraine machen ihm große Sorgen. Dass sich jeder zunächst einmal seinem eigenen Staat verpflichtet fühlt, findet Krause verständlich. "Doch jetzt müssen wir langsam diese alten Denkmuster überwinden, damit wir uns globalen Problemen stellen können", sagt er. "Ein Projekt wie der Eurodistrict kann da nur der Anfang sein."

Die Recherche zur europäischen Idee
recherche_artikel

"Weitermachen nach der Krise - was wird aus der europäischen Idee?" Diese Frage hat unsere Leser in der fünften Abstimmungsrunde unseres Projekts Die Recherche am meisten interessiert. Das folgende Dossier soll sie beantworten.

  • Europakarte Wenn Europa im Regal steht

    Manchmal werden Alltagsgegenstände zu etwas Besonderem - und Dinge zu Symbolen. Wir suchen Platzhalter für Europa, die bei Ihnen zu Hause stehen und die Sie an eine Reise, eine Begegnung, ans Erasmus-Semester oder was auch immer erinnern. Posten Sie Ihr Stück Europa für den Recherche-Tumblr.

  • Euro Europa-Recherche Was Europas Skeptiker antreibt

    Sie halten die EU für eine ziemlich nutzlose und kostspielige Veranstaltung: In mehreren Ländern könnten die Europaskeptiker bei der kommenden Wahl stärkste Kraft werden. Ist die Ablehnung des europäischen Projekts eine Reaktion auf die Krise oder war das schon immer so? Eine Spurensuche.

  • Bürokratie Brüssel Was hinter dem "Bürokratie-Irrsinn" steckt

    Als Beleg für die angebliche "Regulierungswut" der EU müssen Vorschriften für niederländische Seilbahnen, angebliche Dekolleté-Verbote oder immer wieder die Krümmung von Gurken und Bananen herhalten. Doch die meisten Vorwürfe entpuppen sich als falsch, gehässig oder als Wahlkampf-Heuchelei.

  • Europas verborgene Grenzen

    Grenzen? Pah! Spielen in Zeiten der EU keine Rolle mehr, Europa wächst zusammen. Dachte man. Doch dann kommt die Krise und neue Hindernisse tun sich auf. Grenzen zwischen Arm und Reich werden zu Grenzen in den Köpfen. Ist Europa am Ende?

  • Europäische Familie "Mein größter Wunsch ist ein europäischer Pass"

    Was ist eigentlich Europa? Und wie fühlt es sich an? Familie Velte hat ihre Wurzeln in Deutschland, Italien und England. Jedes Jahr zu Weihnachten packt sie eine tiefgekühlte Pute in die Dachbox ihres Autos und fährt damit zu den Großeltern nach Italien. Zwischendurch macht sie sich viele Gedanken über Europa. Ein Tischgespräch.

  • Die Rechnung, bitte

    Nicht noch mehr Milliarden für Griechenland, quengelt manche Partei im Europawahlkampf. Dabei profitiert Deutschland enorm von der Euro-Krise. Die Kosten liegen bisher bei null.

  • Was uns Statistiken über die EU verraten

    Wer in Europa bekommt die meisten Kinder? Wo leben die reichsten Menschen, wo die meisten Wissenschaftler? Und wie viele Schafe gibt es in Spanien? Der Europa-Atlas von SZ.de packt offizielle Statistiken in anschauliche Karten.

  • Mit welchen Tricks in Brüssel Politik gemacht wird

    In der "Euro-Bubble" ist Politikern und Lobbyisten jedes Mittel recht. Die Brüsseler SZ-Korrespondentin Cerstin Gammelin und ihr Kollege Raimund Löw erhielten Einblick in Geheimprotokolle der EU-Gipfeltreffen. Diese zeigen, wie Kanzlerin Merkel EU-Schuldenstaaten entmündigen wollte und wieso genau 440 Milliarden Euro im Euro-Rettungsfonds landeten - und nicht viel weniger.

  • Francois Mitterand und Helmut Kohl Verdun Hart an der Grenze

    So gut kann Europa im Alltag funktionieren: Im Eurodistrict SaarMoselle arbeiten deutsche und französische Bürgermeister über die Grenzen hinweg zusammen. Doch ausgerechnet hier wählen viele Franzosen rechtsextrem.

  • Grenze Europa-Recherche Die Vorurteile der anderen

    Wir halten uns für weltoffen und tolerant, gerade in einem Europa der offenen Grenzen. Aber Stereotype und Ressentiments erweisen sich auch im Zeitalter der Globalisierung als hartnäckig - vor allem wenn sie uns gar nicht bewusst sind.

  • A pedestrian walks past a mural by French street artist Tilt in the Shoreditch area of London Let's face it: Europa muss Englisch sprechen

    Wie sollen sich Europäer besser verstehen, wenn sie nicht miteinander reden können? Englisch ist Europas wichtigste Sprache. Jeder Bürger sollte sie beherrschen - und es ist die Pflicht eines jeden EU-Mitgliedstaats, dafür zu sorgen.

  • ukraine europa Der Krieg so nah, Europa so fern

    Sie gingen für Europa auf die Straße und lösten eine Revolution aus, die ihr Land an den Rand des Bürgerkriegs drängt. Was bedeutet die europäische Idee für die Aktivisten vom Euromaidan? Und was hat sich durch die Ereignisse der vergangenen Monate verändert? Eine Spurensuche.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: