Euro-Zone:Berliner Disziplin, Pariser Solidarität

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Über die EU-Schuldenkriterien wurde gezankt und gestritten, nur eingehalten wurden sie nie. Ökonomen aus Deutschland und Frankreich fordern nun eine Radikalreform für den Euro.

Von Cerstin Gammelin, Berlin

Zur Völkerverständigung in Europa hat das Defizitkriterium nicht beigetragen, ganz im Gegenteil. Auch deshalb plädieren Ökonomen für ihre Abschaffung. (Foto: imago/IPON)

Zuchtmeister, Sparmeister, Brandstifter. Solche Beschimpfungen hatte der frühere Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble regelmäßig zu ertragen, wenn er im Kreise seiner europäischen Kollegen scheinbar streng auf die Einhaltung der Schuldenregeln pochte. Die Kritik entzündete sich stets am Defizitkriterium, jener Regel also, die Staaten vorschreibt, wie viele zusätzliche Schulden sie jährlich machen dürfen. Nämlich weniger als drei Prozent, bezogen auf die Wirtschaftsleistung. So stand es jedenfalls im Vertrag von Maastricht, doch praktisch wurde um diese Regel seit ihrer Erfindung gezankt und gestritten, es wurde mit Sanktionen gedroht, nur eingehalten wurde sie nicht.

Das bisherige Regelwerk sei "am Ende", sagt Forscher Fuest, "das nimmt keiner mehr ernst."

Beschimpfungen und Gezanke sollen jetzt mit einer radikalen Maßnahme beendet werden. Die Defizitregel gehört abgeschafft, und zwar noch in diesem Jahr. Das fordert eine Gruppe von 14 führenden Ökonomen aus Deutschland und Frankreich. Die Gruppe, die sowohl rechtskonservative als auch linksliberale Kollegen aus beiden Ländern vereint, hat geschafft, was die Regierungen in Berlin und Paris noch vor sich haben. Sie haben traditionelle deutsche Marktdisziplin mit klassischer französischer Risikoteilung verbunden und sich auf ein Reformkonzept geeinigt, mit dem der Euro unangreifbar gemacht werden soll. "Wir zeigen, dass es möglich ist, sich zu einigen", sagt Clemens Fuest, Präsident des Ifo-Instituts am Mittwoch in Berlin. Gemeinsam mit Marcel Fratzscher, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, stellt er die eigene Arbeit vor und nimmt danach die Politik in die Pflicht. "Wir haben die Hoffnung, dass es auch unseren Regierungen gelingt."

Es ist ein Auftritt, der noch vor einem Jahr undenkbar gewesen wäre. Fuest und Fratzscher standen sich konzeptionell unversöhnlich gegenüber. Ähnlich wie Deutschland und Frankreich verfolgten sie unterschiedliche Strategien, um den Euro vor weiteren Krisen zu schützen. Berlin propagierte Spardisziplin und pochte auf die eigene Verantwortung jedes Euro-Landes für seine Finanzen. Paris dagegen plädierte für mehr Investitionen und mehr Solidarität. Fuest war Deutschland, Fratzscher war Frankreich. Am Mittwoch sagt Fratzscher. "Mehr Solidarität und strenge Regeln sind keine Widersprüche." Fuest sagt, das bisherige Regelwerk sei "am Ende, das nimmt keiner mehr ernst". Vor allem die Defizitregel habe nur nationale Konflikte geschürt, sonst aber nichts gebracht. Deshalb schlage man vor, auf eine neue Ausgabenregel umzustellen. Er spricht von einem "Neustart für die Euro-Zone". Beide loben die anregende Zusammenarbeit mit den Kollegen in Paris.

Annäherung zwischen Paris und Berlin ist überhaupt angesagt. Gemessen an der Anzahl der Termine wird es täglich enger. Die am Mittwoch von Ökonomen beider Länder vorgestellte Radikalreform für den Euro ist der Auftakt einer Woche, in der sich Deutsche und Franzosen ihrer selbst vergewissern. Der geschäftsführende Bundesfinanzminister Peter Altmaier (CDU) fliegt am Donnerstag zu seinem Kollegen Bruno Le Maire nach Paris, sie wollen sondieren, was man bei der Euro-Zone gemeinsam machen könnte. Am Freitag erwartet der französische Präsident Emmanuel Macron die geschäftsführende Kanzlerin Angela Merkel (CDU). Am Montag werden die Parlamente in Berlin und Paris aus Anlass des 55. Jahrestages des Elysée-Vertrags eine gemeinsame Resolution verabschieden, die Präsidenten von Bundestag und Assemblée Nationale werden vor den Abgeordneten reden.

Das Konzept der Ökonomen ist bereits in die politischen Gremien eingespeist

Am Montag wird man auch sehen, wie schnell eine neue Bundesregierung in konkrete Verhandlungen einsteigen kann. Das Konzept der Ökonomen ist bereits in den politischen Gremien eingespeist. Konkret schlagen sie sechs Reformen vor, die jedoch, wie Fuest betont, nur zusammen voll wirksam werden können. Berlin müsse bereit sein, solidarischer zu sein, Paris müsse mehr Disziplin zeigen, sagt der Ökonom aus München. Henrik Enderlein, Direktor des Jacques-Delors-Instituts in Berlin und Mitautor der Studie, sagt, das Konzept sei "ein austariertes Gesamtpaket und kein Einkaufszettel: Alles gehört zusammen."

Die erste Reform läuft darauf hinaus, Staaten unabhängiger von Banken zu machen. Dazu sollen Banken nur noch eine bestimmte Menge von Staatsanleihen des Heimatlandes halten dürfen. Auch eine Versicherung gegen große wirtschaftliche Krisen soll es geben. Dazu wird ein Topf eingerichtet, der durch einen jährlichen Beitrag der Mitgliedstaaten gefüllt wird. Geplant sind 0,1 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, für Deutschland drei Milliarden Euro. Gerät ein Land in eine große Krise, zahlt die Versicherung Geld aus, um etwa die Arbeitslosigkeit einzudämmen. Dafür steigt später die Risikoprämie für das betreffende Land. Die komplizierten Schuldenregeln sollen vereinfacht und das Defizitkriterium abgeschafft werden. Die erlaubten Ausgaben hängen künftig davon ab, wie kräftig die Wirtschaft wächst. Zu hoch verschuldete Staaten sollen ihre Schulden geordnet abbauen. Es werden spezielle Wertpapiere entwickelt. Die Fiskalpolitik der Mitgliedstaaten soll unabhängiger überwacht werden. Die Vergabe von Krediten für Krisenstaaten soll dem reformierten Euro-Rettungsfonds ESM obliegen. Nur Stunden nach der Vorstellung des Plans regte sich erster Widerstand. In Berlin sagte der neue Euro-Gruppen-Chef Mario Centeno, die Defizit-Regel abzuschaffen stehe "nicht zur Debatte". Altmaier beließ es bei dem allgemeinen Hinweis, man setze die Schäuble-Politik fort.

© SZ vom 18.01.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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