EU-Vertrag von Lissabon:Deutsch-europäischer Showdown

Einer wird verlieren: Im Rechtsstreit um den Vertrag von Lissabon büßt entweder das Grundgesetz seine Bedeutung ein, oder die EU-Reform scheitert.

H. Prantl

Wenn Karlsruhe über Europa verhandelt, dann ist das stets ganz großes Theater - klassisches Staatstheater, ein Drama um Sein oder Nichtsein Deutschlands.

EU-Vertrag von Lissabon: Als Bundeskanzlerin Angela Merkel am 13. Dezember 2007 in Lissabon den EU-Reformvertrag unterschrieb, hatten nicht alle Beobachter die Beeinträchtigung nationaler Souveränitätsrechte im Blick.

Als Bundeskanzlerin Angela Merkel am 13. Dezember 2007 in Lissabon den EU-Reformvertrag unterschrieb, hatten nicht alle Beobachter die Beeinträchtigung nationaler Souveränitätsrechte im Blick.

(Foto: Foto: AFP)

"Finis Germaniae", das ist der Titel des Stücks, das seit 35 Jahren in Karlsruhe immer wieder aufgeführt wird: Die Kläger marschieren mit einem Ausrufezeichen in den Saal, die Richter biegen es dann zu einem Fragezeichen um.

Es geht jeweils um die Grundprinzipien der Demokratie und die Souveränität; es wird die deutsche Staatsgewalt beschworen, es wird über Hoheitsrechte gerechtet und mit juristischen Ketten geklirrt - mit der Legitimationskette zum Beispiel.

Legimationskette? Alle Staatsgewalt muss nach dem Grundgesetz vom deutschen Staatsvolk ausgehen und sich auf dieses zurückführen lassen. Die Übertragung von Hoheitsrechten darf also nicht so weit gehen, dass die Bundestagswahl ihr politisches Gewicht verliert.

Das sind die fundamentalen Probleme, um die das Gericht seit jeher kreist, wenn es über Europa verhandelt. In den Urteilen werden gern gewaltige Prämissen für den Fortgang der europäischen Einigung formuliert, an denen gemessen aber fast jeder EU-Vertrag für verfassungswidrig hätte erklärt werden müssen; zumal der Maastricht-Vertrag, der den Euro erschaffen hat. Damals, 1993, schrieb das Gericht ein Urteil, das sich zunächst las wie die Begründung für die Verfassungswidrigkeit des Vertrags, das aber dann einmündete in eine etwas angeberische Drohung, die sich wie folgt anhörte: bis hierher und nicht weiter!

Karlsruhe hat den Showdown zwischen Grundgesetz und EU-Verträgen immer hinausgeschoben, mit lautstarken Worten und kleinlauten Schlussfolgerungen: "Solange" das Grundgesetz Gültigkeit behalte und "solange" die Grundrechte von der EU beachtet würden - "solange" werde sich das höchste deutsche Gericht als Wächter der Verfassung in die europäischen Dinge nicht einmischen. Wie lange dauert "solange"?

Am Dienstag und Mittwoch verhandelt das Gericht über den EU-Reformvertrag von Lissabon. Der Lissabon-Vertrag ist der partiell identische, noch etwas kompliziertere Ersatz für die EU-Verfassung, die an ablehnenden Volksabstimmungen in Frankreich und den Niederlanden gescheitert war.

Diesmal muss das Gericht entweder nein zum Vertrag sagen - oder es hat künftig nichts mehr zu sagen. Es ist nämlich so: Der EU-Reformvertrag von Lissabon nimmt dem Bundesverfassungsgericht einen Teil seiner bisherigen Macht und Herrlichkeit. Der finale Grundrechtsschutz, der dem Karlsruher Gericht bisher anvertraut war, geht partiell auf den Europäischen Gerichtshof in Luxemburg über. So behaupten es jedenfalls die Kläger.

Im Urteil über den Maastricht-Vertrag von 1993 hatten sich die Richter selbst eine besondere Position eingeräumt: Sie nahmen für sich in Anspruch, die weitere europäische Entwicklung genau zu kontrollieren. Einer der damaligen Richter, Paul Kirchhof, gebrauchte in seinen Erläuterungen des Maastricht-Urteils das Bild vom Kontrollhäuschen.

Das Europäische Recht ströme wie über eine Brücke nach Deutschland; auf der Brücke aber stehe ein Kontrollhäuschen, darin die Richter des Bundesverfassungsgerichts, um aufzupassen, dass nichts Grundrechtsfeindliches nach Deutschland kommt. Der Lissabon-Vertrag befiehlt nun aber die Zwangsräumung des Kontrollhäuschens: Er räumt den Karlsruher "Bis-hierher-und-nicht-weiter"-Vorbehalt beiseite und erklärt die Karlsruher Kontrolle über angeblich "ausbrechende Rechtsakte" der EU für erledigt.

Über Brüsseler Ausschweifungen soll künftig nicht mehr Karlsruhe, sondern der EU-Gerichtshof zu Luxemburg befinden. Wenn die EU also künftig, wie es die Kläger gegen den Lissabon-Vertrag befürchten, sich selbst ihre Kompetenzen auf Kosten der Mitgliedsstaaten erweitert, kann nur noch der EU-Gerichtshof eingreifen. Und der hat bisher im Zweifel fast immer für Brüssel entschieden.

Das Karlsruher Gericht urteilt also nun auch über seine eigene Zukunft. Es steht vor dem Lissabon-Vertrag wie vor einem deutsch-europäischen Aufgebot. Die große Frage an das Gericht ist die des Pfarrers in einem Hollywood-Hochzeits-Film: Wer etwas gegen diese Verbindung einzuwenden hat, der spreche jetzt - oder der schweige für immer.

Erklärt das Gericht deswegen den EU-Vertrag für verfassungswidrig, ist eine EU-Reform für lange Zeit gescheitert. Dem Gericht würde der Vorwurf gemacht, nicht nur der europäischen Idee geschadet, sondern verhindert zu haben, dass das Europäische Parlament mehr Rechte erhält. Andererseits ist es so, dass das EU-Parlament auch mit den neuen Lissabon-Rechten ein kastriertes Parlament bleibt: Ein Gesetzesinitiativrecht, wie es zu einem richtigen Parlament gehört, kriegt es nach wie vor nicht.

Das nationale Parlament hat also immer weniger und das Europa-Parlament nicht viel genug zu sagen. Was werden die Richter stärker gewichten: Dass es mit dem Lissabonner Vertrag ein Stück mehr Demokratie gibt in Europa? Oder dass es dort noch immer zu wenig Demokratie gibt?

Anderswo entscheidet über Europa das Volk. In Deutschland entscheidet das Bundesverfassungsgericht. Womöglich entscheidet das Gericht diesmal, dass die Zeit dafür reif ist, das Volk entscheiden zu lassen. Ausgeschlossen ist das nicht: Den Weg weist Artikel 146, der Schlussartikel des Grundgesetzes.

Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: