EU und Türkei:Flüchtlingspakt in Gefahr

Berlin und Brüssel stellen klar: Visafreiheit wird es nur geben, wenn Ankara sein Terror-Gesetz entschärft. Die Türkei droht, wieder Flüchtlinge zu schicken.

Von S. Braun, T. Kirchner, Berlin/Brüssel

Im Streit über die Visafreiheit für türkische Bürger steuern Europa und die Türkei auf einen kaum noch lösbaren Dissens zu. Das lässt sich zumindest Äußerungen führender Politiker beider Seiten entnehmen. Damit gerät das Abkommen mit der Türkei in Gefahr, das wichtigste Instrument der EU gegen die Flüchtlingskrise.

Nachdem der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan zunächst mit harten Worten die EU-Forderung zurückgewiesen hatte, die Türkei müsse ihr Antiterror-Gesetz ändern, bestand Bundesinnenminister Thomas de Maizière am Dienstagabend darauf, Ankara müsse eben diese Bedingung unbedingt erfüllen. "Wenn nicht, dann wird es keine Visafreiheit geben", sagte de Maizière in der wöchentlichen Fraktionssitzung der Union. Bundestagspräsident Norbert Lammert ergänzte unter Beifall, es sei an der Zeit, gegenüber Ankara einen glasklaren Kurs zu verfolgen.

In dieselbe Richtung zielt EU-Parlamentspräsident Martin Schulz (SPD). Er hat Beratungen seines Hauses faktisch auf Eis gelegt, bis deutlich ist, ob Ankara alle Bedingungen für die Visaliberalisierung erfüllt. Noch sind aber fünf der 72 Punkte der Liste der EU offen. Als besonders heikel gelten die Unabhängigkeit der geplanten Datenschutzaufsicht sowie die von Ankara verwendete Definition von Terror, welche die EU für "zu breit" hält.

Schulz machte deutlich, dass aus seiner Sicht keine Aussicht besteht, die Visafreiheit wie geplant bis Ende Juni zu beschließen. Zuversichtlich äußerte sich dagegen EU-Innenkommissar Dimitris Avramopoulos, dass die türkischen Behörden alles täten, um Ende Juni die Bedingungen zu erfüllen. Ein Kompromiss ist nicht in Sicht. Stattdessen verschärft die Türkei den Ton. Erdoğans Berater Burhan Kuzu schrieb im Kurznachrichtendienst Twitter, das EU-Parlament stehe vor einer wichtigen Entscheidung. "Wenn es die falsche Entscheidung trifft, schicken wir die Flüchtlinge los." Nach Ansicht von Europa-Minister Volkan Bozkir entspricht das türkische Antiterror-Gesetz schon EU-Standards. Eine Änderung sei nicht nötig und auch nicht akzeptabel, sagte Bozkir dem Sender NTV. Erdoğan griff die EU scharf an. Diese habe selbst Defizite bei der Terror-Bekämpfung, sie biete sogar Helfern von Terroristen Unterschlupf. Damit meinte der Präsident die kurdische PKK. Allerdings deutete er eine gewisse zeitliche Flexibilität an, indem er zu verstehen gab, dass er auch mit dem ursprünglichen Plan leben könne, erst im Oktober Visafreiheit zu erhalten.

Die Bundesregierung war zwar maßgeblich am Abkommen mit der Türkei beteiligt, doch sieht sie die damit verbundene Visafreiheit auch als Sicherheitsproblem. Noch gibt es keine umfassende Ein- und Ausreisedatei in der EU. Experten befürchten, dass bei Visafreiheit ohne so eine Datei potenzielle Gefährder aus Krisenregionen des Nahen Ostens leichter einreisen könnten. Laut Bundeskriminalamt kamen beim großen Flüchtlingsandrang im Herbst mehr Verdächtige nach Deutschland als bisher vermutet. Es seien mehrere Hundert Personen, gegen 40 seien Ermittlungsverfahren eingeleitet.

Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: