EU und Türkei:Die EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei sollten ausgesetzt werden

Aftermath of an attempted coup d'etat in Turkey

Spezialeinheiten der Polizei auf dem Taksim-Platz in Istanbul: Das europäische Gefühl in der Türkei ist im wachsenden Autoritarismus in der Politik Erdoğans kaum noch spürbar.

(Foto: dpa)

Dieses Land hat sich verloren, und Europa verliert vielleicht dieses Land. Ein Notstandsstaat Erdoğan'scher Prägung gehört nicht in die EU.

Kommentar von Kurt Kister

Der Militärputsch in der Türkei war nur ein dilettantischer Versuch. Aber das ändert nichts an seiner Verwerflichkeit. Es liegt im Interesse aller Rechtsstaaten, dass einem Putsch mit Entschiedenheit und durchaus auch mit Härte, da wo sie nötig ist, entgegengetreten wird. Alle Demokratien kennen im Falle eines inneren Notstandes, der die Existenz der rechtsstaatlichen Ordnung bedroht, Gesetze für den Ausnahmezustand, auch wenn er nicht überall so genannt wird.

In der Türkei allerdings dient der Ausnahmezustand nicht mehr der Bekämpfung des Putsches und der Putschisten. Präsident Erdoğan ist dabei, große Teile der politischen und sonstigen Opposition lahmzulegen, zu verhaften, zum Schweigen zu bringen. Die Regierung nutzt die Wut von Teilen des Volkes gegen die Putschisten; sie ermächtigt sich selbst unter Berufung auf die Volksmeinung zur Beseitigung der Pluralität in der Türkei.

Der Putsch war ein unwillkommener Anlass, endlich aller angeblichen Verräter, Nicht-Patrioten und Staatsfeinde habhaft zu werden, über die man lange vor dem Putsch Listen angelegt hatte. Erdoğans Hang zum Autoritarismus war schon vorher klar ersichtlich. Erdoğans Türkei nach dem Putsch ist kein Verfassungs-, sondern ein Verhaftungsstaat. Leider haben sie auch das europäische Gefühl verhaftet, das es in der Türkei gab.

Dem Putsch folgte ein Staatsstreich gegen den Rechtsstaat

Weil das so ist, muss die EU jetzt handeln. Erdoğans Post-Putsch-Staat verstößt gegen jene Wertordnung, der sich, trotz aller Unterschiede, die Staaten der EU verpflichtet fühlen - vielleicht mit Ausnahme der polnischen Pis-Regierung. Ein Notstandsstaat Erdoğanscher Prägung gehört nicht in die EU. Solange sich hier keine wirkliche Änderung in Richtung pluralistischer Rechtsstaat abzeichnet, sollte die EU alle Beitrittsverhandlungen mit der Türkei aussetzen. Dazu muss nicht der Schritt über die oft zitierte rote Linie erfolgen, also die Wiedereinführung der Todesstrafe. Die keineswegs wahllose, sondern systematische Verfolgung von Lehrern, Beamten, Juristen, Journalisten, die als Feinde der AKP gelten, ist ein Staatsstreich gegen den Rechtsstaat.

Zwar ist der Autoritarismus des Präsidenten das offensichtlichste Problem. Allerdings gibt es auch etliche andere Entwicklungen, welche die grundsätzliche Instabilität der Türkei deutlich machen. Das reicht von dem durchaus vorhandenen Einfluss der keineswegs demokratischen, ins Islamistische lappenden Gülen-Bewegung über den erneuerten Kurdenkrieg, der von beiden Seiten blutig gefochten wird, bis hin zu starken anti-modernen Strömungen in Teilen des Volkes.

Auf ihrem Weg nach Europa war die Türkei zu Beginn dieses Jahrhunderts relativ weit gekommen. Es gab Anzeichen dafür, dass sich mit einer Form des modernen Kemalismus eine prinzipiell traditionalistische Gesellschaft mit einem liberaleren, pluralistischen Staatsverständnis versöhnen könnte. Diese Anzeichen gibt es heute nicht mehr. Die Türkei hat sich verloren, und Europa verliert vielleicht die Türkei.

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