EU-Türkei-Gespräche:So steht es um das Verhältnis der EU zur Türkei

Amnesty International activists hold a protest outside the EU commission with giant figures depicting activists who were detained in Turkey, in Brussels

Aktivisten von Amnesty International demonstrieren in Brüssel gegen die Inhaftierung von Menschenrechtlern in der Türkei.

(Foto: Eric Vidal/Reuters)

Ankara entferne sich von europäischen Werten, heißt es aus Brüssel - doch den Gesprächsfaden will die EU nicht abreißen lassen. Die fünf wichtigsten Verhandlungspunkte im Überblick.

Von Thomas Kirchner, Brüssel, und Luisa Seeling

"Hochrangiger politischer Dialog" heißt das Gesprächsformat, in dem am Dienstag die EU und die Türkei in Brüssel miteinander sprachen. Die Erwartungen waren indes tief angesetzt. Nicht nur wegen der schrillen Töne, die kürzlich zwischen Berlin und Ankara hin und her flogen, sondern weil auf allen Ebenen der Beziehungen Stillstand herrscht oder gar Rückschritte zu erkennen sind. Die Türkei entferne sich von den europäischen Werten, hatte EU-Erweiterungskommissar Johannes Hahn vor Beginn der Gespräche die Lage zusammengefasst.

Aber sie sei nun einmal ein "sehr wichtiges Nachbarland", deshalb müsse man "die Kanäle offen halten und sehen, wie wir weiterhin zusammenarbeiten können". Solche Gespräche böten auch die Gelegenheit, Einwände öffentlich zu äußern. Und das tat die Außenbeauftragte Federica Mogherini nach dem Treffen auch. Sie erwähnte "besorgniserregende Muster" wie die Gefängnisstrafen für Journalisten und Menschenrechtsaktivisten, einer von vielen Punkten, bei denen man nicht übereinstimme. Sie wolle da nicht nur Ankündigungen hören, sondern "konkrete Schritte im Bereich von Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechten, Demokratie, Medienfreiheit sehen", sagte Mogherini. Aber man arbeite andererseits auch gut zusammen, etwa bei Energiefragen, bei der Migration und beim "Kampf gegen Terror". Die beiden türkischen Gäste, Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu und Europaminister Ömer Çelik, verteidigten sich ausgiebigst, rechtfertigten das umstrittene Vorgehen ihrer Regierung seit dem Putschversuch und auch im jüngsten Streit mit Berlin. Eine Bestandsaufnahme der Beziehungen:

Beitrittsverhandlungen

Im Beitrittsprozess gibt es wenig bis gar keine Bewegung. Erst eines der sogenannten Kapitel - Wissenschaft und Forschung - wurde mit positivem Ergebnis vorläufig geschlossen. Zuletzt hatte die EU im Juni 2016 mit der Türkei ein Kapitel zu Finanz- und Haushaltsfragen eröffnet, wie es im Rahmen des Flüchtlingsabkommens vereinbart worden war. Insgesamt 15 von 35 Kapiteln sind geöffnet.

Konkrete Verhandlungen finden nicht mehr statt. Und doch bleibt die Türkei offiziell Beitrittskandidat. Dass die Gespräche abgebrochen oder auch nur suspendiert werden, steht vorerst nicht zu erwarten. Das EU-Parlament hatte im November dafür plädiert, den Beitrittsprozess formell auszusetzen, in dieser Woche wiederholten konservative wie sozialdemokratische EU-Politiker die Forderung. Allerdings muss über einen solchen Schritt der Rat entscheiden, das Gremium der Mitgliedstaaten, das zuletzt im April am Status quo festhielt. Man könne das nicht ignorieren, sagte Hahn. Bisher hat nur Österreich klar für einen Verhandlungsstopp plädiert.

Die türkische Regierung will jedenfalls ungeachtet der Spannungen weiter verhandeln. "Der Kern unser Beziehungen dreht sich um die Beitrittsgespräche", sagte Çelik. "Wenn wir Probleme miteinander haben, etwa in Bezug auf den Rechtsstaat, dann kann die Lösung nur sein, mehr zu verhandeln, nicht weniger." Deshalb müssten die Kapitel 23 und 24 zu Justiz, Grundrechten und Freiheit nun unbedingt eröffnet werden.

EU-Finanzhilfen

Weil die Türkei Beitrittskandidat ist und wohl vorerst bleiben wird, fließen auch weiterhin die umfangreichen "Vorbeitrittshilfen". Rechtlich lässt sich daran nichts ändern, es gibt keine Suspendierungsklausel. Für den Zeitraum von 2014 bis 2020 sind dafür im EU-Haushalt 4,45 Milliarden Euro vorgesehen. Bisher ist die EU laut Kommission Zahlungsverpflichtungen in Höhe von 1,65 Milliarden eingegangen, konkret ausbezahlt hat sie 190 Millionen. Hinsichtlich der Verwendung habe er einen kleinen Spielraum, sagte Hahn, den er nutze, um Geld zu Gunsten der Zivilgesellschaft oder rechtsstaatlicher Einrichtungen umzuschichten. Problemloser fließt das Geld, das im Rahmen des Flüchtlingsabkommens syrischen Flüchtlingen zu Gute kommt. Von den drei Milliarden, die die EU für 2016 und 2017 versprochen hat, sind 826 Millionen ausbezahlt.

Flüchtlingspakt

Nicht alle Abmachungen werden erfüllt, vor allem seitens der EU, aber im Kern hält der Deal, und dies trotz Dutzender Drohungen aus Ankara, ihn zu kündigen. Das zeigt zweierlei: Man muss nicht bei jeder lauten Äußerung türkischer Politiker, die sich auch nach innen richtet, zusammenzucken. Und offensichtlich liegt das Abkommen weiterhin im Interesse der Türkei. Es nützt aber auch den Europäern. Es hat dazu beigetragen, die Migration über die Ägäis drastisch zu reduzieren, und kaum jemand in Brüssel sähe es gern, wenn die Route im östlichen Mittelmeer wieder attraktiver wird. Deshalb bleibt der Pakt vorerst wohl ein Magnet, der die Partner nolens volens zusammenhält.

Visa

Die meisten Türken, die in die EU reisen, brauchen ein Visum, ein Zustand, den ihre Regierung seit Jahren ändern will. Die EU hat die Liberalisierung versprochen und bei Abschluss des Flüchtlingspakts sogar eine Beschleunigung in Aussicht gestellt. Doch weil die Türkei fünf Kriterien noch nicht erfüllt hat (und keine Anstalten macht, daran etwas zu ändern), bleibt die Angelegenheit in der Schwebe.

Zollunion

Seit 1996 existiert zwischen beiden Seiten eine Zollunion. Sie ist aber auf die Industrie und einige landwirtschaftliche Produkte beschränkt. Ein Ausbau auf die Bereiche Dienstleistungen, öffentliches Beschaffungswesen und anderes liege auch im Interesse der EU, betont die Kommission. Das bringe zusätzliche Gelegenheiten für EU-Unternehmen und ein mögliches Exportplus von 27 Milliarden Euro im Jahr.

Im vergangenen Dezember bat die Brüsseler Behörde die EU-Staaten um ein entsprechendes Verhandlungsmandat. Im Rat der Mitgliedstaaten hängt die Sache aber nun fest. Als Bedingung für den Ausbau nennt die Kommission "Respekt für die Demokratie und für Grundrechte". Laut Hahn wird im Rat erwogen, diese "Standardklausel" zu verschärfen. "Die aktuelle Diskussion wird eine schnelle Entscheidung aber nicht befördern." Die Türkei müsse sich hier im eigenen Interesse auf die EU zubewegen.

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