EU-Sondergipfel:EU-Mitgliedstaaten einigen sich auf "Agenda von Bratislava"

EU-Sondergipfel: Bundeskanzlerin Angela Merkel beim Treffen der 27 EU-Staaten in Bratislava.

Bundeskanzlerin Angela Merkel beim Treffen der 27 EU-Staaten in Bratislava.

(Foto: AFP)

Nach dem Brexit-Schock versucht die EU einen Neustart. Die Vertreter osteuropäischer Staaten machen aber deutlich, dass sie in der Flüchtlingskrise nicht einlenken wollen.

Von Daniel Brössler und Thomas Kirchner, Bratislava

Die Sonne strahlt. Unterhalb der herausgeputzten Burg von Bratislava fließt die schöne blaue Donau, über die später an diesem Tag 27 Staats- und Regierungschefs schippern werden. Überhaupt ist alles unverschämt schön an diesem Tag, an dem es doch darum geht, warum sich Europa oder doch die Union, die diesen Kontinent zusammenhält, in einem so unschönen Zustand befindet.

Viele Menschen mögen diese Union nicht mehr, die Briten wollen sogar raus. Man kann sich fragen, warum das so ist. Angela Merkel soll dazu gleich etwas sagen. Sie ist soeben aus ihrer Limousine gestiegen, die Kameras sind auf sie gerichtet, als sie allerdings leicht irritiert feststellen muss, dass ein anderer spricht. Ein junger Mann referiert über den Binnenmarkt. Taavi Rõivas heißt er, ist 36 Jahre alt, Regierungschef von 1,3 Millionen Esten und der Mann, den Merkel, die mächtigste Frau der Welt, erst einmal ausreden lassen muss. So ist die EU. Eigentlich wunderbar.

Der junge Herr Rõivas hat natürlich Manieren. Als er die Kollegin Kanzlerin bemerkt, wendet er sich ihr umgehend zu. Merkel lacht etwas verlegen, man begrüßt sich. Vielleicht einen Tick zu laut fährt der Este schließlich fort: "Ich heiße die Punkte sehr willkommen, die Deutschland und Frankreich zur künftigen Verteidigungszusammenarbeit vorgelegt haben." Merkel bedankt sich artig und ist nun endlich selbst an der Reihe.

Merkel macht klar: Nur durch Taten komme man aus dieser "kritischen Situation" heraus

Erst einmal sagt sie, worum es nicht geht: "Es geht ja jetzt nicht darum, einfach von einem Gipfel die Lösung der Probleme Europas zu erwarten." Ziel sei nun, "durch Taten zu zeigen, dass wir besser werden können." Denn: "Wir sind in einer kritischen Situation."

Irgendetwas muss passieren, das war das Gefühl nach dem Brexit-Schock im Juni. Das europäische Projekt als solches ist in Gefahr - Frieden, Freiheit, Wohlstand, offene Grenzen, all diese großen Errungenschaften -, wenn sich nichts Entscheidendes ändert. "Die EU-27 muss besser sein als die EU-28", hatte Rumäniens Präsident Klaus Johannis am Tag nach dem Referendum gesagt, "sonst ist es vorbei mit der Union." Aber was muss passieren, was genau soll sich ändern?

Darum soll es in Bratislava im Kreis der 27 gehen, bei zwei Arbeitstreffen auf der Burg und einer zwischenzeitlichen Spritztour samt Mittagessen auf der Donau. MS Regina Danubia heißt das Luxusboot, und weil es einem Reeder aus Passau gehört, weht am Heck die deutsche Fahne, woran sich zumindest öffentlich niemand stört.

Als Thema der ersten Sitzung hat EU-Ratspräsident Donald Tusk die Unzulänglichkeiten der EU vorgegeben. Die Diskussion sei "offen und ehrlich, aber ohne Attacken" verlaufen, wird im Anschluss nach außen getragen. Die einen sagen, das größte Problem sei der Schutz der Grenzen, andere wiederum beklagen die Jugendarbeitslosigkeit und wieder andere den Terrorismus. Das wäre nicht schlimm, wenn es gelänge, sich über Prioritäten und Lösungen zu verständigen. Tusk stellt sich vor, dass Außengrenzen, der Kampf gegen den Terrorismus und die Globalisierung als Hauptthemen gesetzt werden.

Europas Politiker spüren, wie unpopulär das Projekt geworden ist

Um Beschlüsse geht es in der slowakischen Hauptstadt nicht, nur die groben Linien sollen gezeichnet werden. Und selbst da sind erhebliche Unschärfen zu erkennen. Und Bruchstellen: zwischen jenen, die nun einen engeren Zusammenschluss fordern, und jenen, die das kategorisch ablehnen; zwischen den Ländern im Norden, die auf ausgeglichene Haushalte und das Einhalten von Regeln pochen, und dem Süden, der das Sparen satthat; und zwischen dem Westen und Osteuropa, das sich weigert, mehr als nur ein paar Handvoll Flüchtlinge aufzunehmen.

Europas Politiker spüren natürlich, wie unpopulär ihr gemeinsames Projekt bei den Bürgern geworden ist, sie kennen die Umfragen, die rechtspopulistischen EU-Hassern in vielen Ländern enorme Popularität bescheinigen. Sie haben sich deshalb vorgenommen, vor allem über die Dinge zu reden, in denen sie sich grundsätzlich einig sind. Mit Ausnahme Polens und Ungarns will zum Beispiel keiner im Kreis der Staats- und Regierungschefs große Umbauarbeiten in der EU. Beide Länder würden gern mehr Macht zurück an die Staaten geben, konnten davon aber nicht einmal Tschechien und die Slowakei - ihre Partner in der Visegrád-Gruppe - überzeugen. Bloß keine endlosen Diskussion über Vertragsänderungen und Kompetenzen - das ist die Stimmung.

"Keiner ist hier hergekommen, um gegen die anderen oder gegen die EU zu kämpfen", sagt der slowakische Außenminister Miroslav Lajčák. Was sich herausschält, ist ein gemeinsamer Nenner, den man mit "Sicherheit in allen Lebenslagen" beschreiben könnte. Die Bürger sollen sich irgendwann wieder geborgen fühlen in der EU. Deutschland und Frankreich haben sich in diesem Sinne eng abgestimmt. Gemeinsame Papiere zu Terrorbekämpfung und Verteidigung waren das Ergebnis. Seht her, ist die Botschaft an alle, der deutsch-französische Motor läuft noch. Am Tag vor dem Gipfel war die Kanzlerin noch einmal in Paris. Und am Abend danach tritt sie gemeinsam mit Frankreichs Präsident François Hollande vor die Presse - ein Symbol.

Beide beschwören einen "Geist von Bratislava", der die Union nun leiten und begleiten möge. Man habe nun eine Agenda, einen Arbeitsplan, sagt Merkel in der ihr eigenen Diktion, "um die entsprechenden Themen abzuarbeiten". Die Zukunft Europas sortiert Merkel nach Spiegelstrichen. Die Migration spricht sie an, den Schutz der Außengrenzen, die Sicherheit, Bekämpfung von Terrorismus und das "Wohlstandsversprechen" der EU, das wieder eingelöst werden müsse. "Was man von Bratislava im Kopf behalten muss, ist dieser Wille, der Wille zu Europa", sagt Hollande. Dem Eindruck einer inszenierten Harmonie treten beide entgegen. "Alles ist zur Sprache gekommen", beteuert Merkel. "Kein Thema wurde ausgespart", sekundiert Hollande. Als ein Beispiel nennt er das EU-Türkei-Abkommen. Nun aber, das betonen beide, gehe es um konkrete Projekte und Resultate. Hollande hebt vor allem die verstärkte Zusammenarbeit bei der Verteidigung hervor.

Hier nämlich haben die Europäer mal wieder ein Thema gefunden, bei dem sich nicht sofort ein Graben auftut. Die meisten begrüßen den jüngsten deutsch-französischen Vorschlag, in der Rüstungsindustrie stärker zusammenzuarbeiten und ein permanentes EU-Hauptquartier für militärische und zivile Auslandseinsätze zu schaffen. Nach dem Brexit, ohne die ewig bremsenden Briten, war dieser Schritt zu erwarten. Er sorgt, immerhin, für ein klitzekleines Kohl-Mitterrand-Gefühl, ein Stück Achtzigerjahre-Seligkeit. Ganz so schlimm steht es vielleicht doch nicht um den Zusammenhalt der Rest-Europäer.

Und die Flüchtlinge? "Flexible Solidarität" präsentieren die Staaten der Visegrád-Gruppe in einem Papier zum Gipfel in Bratislava. Jeder soll freiwillig entscheiden, ob und wie er solidarisch sein will. Worte sind das, die nicht klingen, als gäbe es wirklich etwas Neues in der EU. Dennoch: Einen "positiven Ansatz" erkennt Merkel darin, nämlich den Willen, eine Lösung zu suchen. Da Mehrheitsbeschlüsse auf Widerstand gestoßen seien, müsse man sehen, "ob wir auf anderem Wege vorankommen". Das hört sich schwierig an und gar nicht nach einer neuen EU.

Aber so ist das: Immer wenn die Union sich ändern will, stößt sie an die Grenzen des komplexen Gebildes, das sie nun mal darstellt. Veränderungen sind nur in langen, mühseligen und für die Öffentlichkeit unattraktiven Verhandlungsprozessen zu erreichen. Tusk hat sich einen Fahrplan vorgenommen, die "Bratislava Roadmap". Sie soll aus der slowakischen Hauptstadt im Februar ganz in den Süden führen zu einem Gipfel auf Malta und dann wieder ein Stück nördlich nach Rom, wo die EU im März ihr 60-Jähriges feiert.

Am Ende klingt auch Tusk bescheiden. "Wir alle waren uns einig", resümiert er, "die EU ist nicht perfekt, aber sie ist das Beste, was wir haben."

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