EU-Parlamentarier Albrecht über Netzpolitik:"Wir stehen am Anfang einer Zeitenwende"

Jan Philipp Albrecht Datenschutz NSA-Affäre

Grüner Europaabgeordneter Jan Philipp Albrecht.

(Foto: dpa)

Das Europaparlament kämpft dafür, dass Internetkonzerne nur so wenig Informationen wie nötig speichern. Im SZ-Gespräch erklärt der Grüne Jan Philipp Albrecht, wieso Kanzlerin Merkel diese neue Datenschutzverordnung bislang blockiert, sich Großbritannien in der NSA-Affäre von EU-Idealen entfernt und Amerika eigentlich ein Verbündeter im Kampf für ein freies Internet sein müsste.

Von Matthias Kolb, Brüssel

Jan Philipp Albrecht sitzt seit 2009 für die Grünen im Europaparlament und hat sich seither einen Namen als Datenschutzexperte gemacht. Der gebürtige Braunschweiger hat Jura sowie europäische Rechtsinformatik studiert und besitzt sowohl die deutsche als auch die französische Staatsbürgerschaft.

SZ.de: Herr Albrecht, mit 30 Jahren sind Sie Deutschlands jüngster EU-Abgeordneter. Als Berichterstatter des Innenausschusses zur neuen Datenschutzverordnung sind Sie jedoch sehr einflussreich. Sind Sie mit dem zufrieden, was Sie erreicht haben?

Jan Philipp Albrecht: Ich denke schon. Als Berichterstatter musste ich darauf achten, dass das Anliegen von den Fraktionen ernst genommen wird. Am Ende soll eine Gesetzgebung stehen, die kein Formelkompromiss ist oder nur die Interessen Einzelner widerspiegelt. Natürlich war es enorm viel Arbeit, 4500 Änderungswünsche abzuarbeiten, aber nun ist ein guter Kompromiss entstanden.

Was ändert sich denn für die Menschen in Europa?

Die Datenschutzverordnung ersetzt EU-weite Regeln aus dem Jahr 1995 und vereinheitlicht die 28 nationalen Vorschriften. Heute haben wir einen digitalen Raum und einen digitalen Markt mit unterschiedlichen Regeln, je nachdem wo die Server einer bestimmten Firma stehen. Wir wollten unbedingt, dass die informationelle Selbstbestimmung europaweit gleich ist und jeder die Kontrolle über seine oder ihre Daten ein Stück weit zurückgewinnen kann.

Als Verbraucher hätte ich künftig das Recht, von einer Firma zu verlangen, meine Daten herauszugeben oder zu löschen. Ich muss nicht das irische Datenschutzrecht kennen, wenn ich Auskunft haben will, nur weil sich Facebook in Irland niedergelassen hat.

Das Recht auf Löschen ist ganz wichtig. Bisher konnten sich große Konzerne, die von den USA oder aus Asien kommen, leicht da ansiedeln, wo es lückenhaftes Recht gibt. Im irischen Recht sind leider recht viele Schlupflöcher für Datenverarbeiter enthalten und das führt dazu, dass bisher für alle Europäer irisches Recht gilt. Diese Schlupflöcher wollen wir stopfen.

Bis zur Europawahl im Mai 2014 ist nicht mehr viel Zeit. Wird die Verordnung überhaupt fertig?

Wir haben seit anderthalb Jahren im Parlament und im Ministerrat verhandelt, also in beiden gesetzgebenden Institutionen. Wir Abgeordneten haben uns auf eine Position geeinigt und warten nun auf den Ministerrat. Dort will man im Grundsatz die uralten Regeln aus dem Jahr 1995 modernisieren. Allerdings wehren sich einige Länder wie Großbritannien, weil sich dort Datenverarbeiter wie große Banken niedergelassen haben, die zufrieden sind, wenn eher weniger reguliert wird. Aber leider gehört auch die Bundesrepublik zu den Bremsern. Offensichtlich agiert Berlin allein wegen der Tatsache, dass Datenschutz künftig dem EU-Recht untergeordnet werden soll, sehr zurückhaltend. Frankreich, Spanien, Italien oder Polen setzen sich deutlich mehr für einen starken Datenschutz ein.

Und wenn es keinen Konsens im Rat gibt, dann war Ihre jahrelange Arbeit ganz umsonst?

Für uns ist es sehr wichtig, dass der Rat so schnell wie möglich seine Position findet, damit wir die Verordnung vor der Europawahl verabschieden können. Es würde als nächstes darum gehen, einen Kompromiss aus beiden Positionen zu finden. Wenn es nicht bis Mai gelingt, war die Arbeit aber nicht umsonst. Das neue Parlament könnte auf Basis der alten Position verhandeln. Es weiß aber niemand, ob die neuen Abgeordneten das mittragen, worauf wir uns nun geeinigt haben. Insgesamt würde sich alles ärgerlicherweise verzögern und die Rechtsunsicherheit bliebe.

"Wer so etwas erzählte, galt als Verschwörungstheoretiker"

Gerade verhandeln SPD und Union in Berlin über die neue Koalition. Rechnen Sie mit einer anderen Haltung zum Datenschutz als unter Schwarz-Gelb?

Zuletzt hat das Innenministerium den Ton vorgegeben und die Justizministerin von der FDP war damit beschäftigt, gegen die Vorratsdatenspeicherung zu kämpfen. Das war zwar wichtig, aber so konnte Hans-Peter Friedrich seine Blockadehaltung zementieren. Die SPD-Haltung kann ich noch nicht beurteilen. Es gibt einige Sozialdemokraten, denen die Datenschutzverordnung sehr wichtig ist, während andere nur wenig Verständnis für grenzüberschreitende Regeln zu haben scheinen.

Am 6. Juni 2013 wurden die ersten Berichte über Prism, das Spähprogramm der NSA, veröffentlicht. Wird Datenschutz nun anders wahrgenommen?

Das war ganz sicher ein Wendepunkt. Es wird ja oft gesagt, dass man dies alles schon hätte wissen können, weil einige Experten und Wired-Journalisten darüber geschrieben haben. Aber niemand konnte sich ein solches Ausmaß realistisch vorstellen. Wer so etwas erzählte, galt als Verschwörungstheoretiker. Die ganz große Mehrheit hat dies schlicht falsch eingeschätzt und sich jahrelang zu unkritisch verhalten.

Inwieweit hat der Skandal um das #merkelphone die Debatte verändert?

Seit Snowden ist vielen das Ausmaß der Massenüberwachung klar geworden. Ich habe oft gehört: "Da muss man doch etwas dagegen machen können." Bei Merkelphone hat mich eher überrascht, welch große Wellen der Fall in Amerika schlug. Die Tatsache, dass sogar das Handy der Kanzlerin abgehört wurde, hat viele Abgeordnete und Bürger überrascht, denn die wussten nichts davon.

Einige US-Politiker wie Jim Sensenbrenner, der kürzlich in Brüssel war, wollen nun sogar Reformen durchsetzen.

Dieser Gesetzesentwurf zeigt, dass in Amerika zwölf Jahre nach 9/11 endlich darüber diskutiert wird, ob alles angemessen war, was nach den Anschlägen beschlossen wurde. Sensenbrenner ist da sehr klar: Viel zu viele Daten werden gespeichert und man verliert den Fokus, wonach nur verdächtige Personen überwacht werden sollten. Dass in den USA nun eine Debatte entstanden ist, gibt mir Hoffnung, auch wenn ich nicht glaube, dass ein No-Spy-Abkommen die Lösung wäre. Jeder Bürger sollte das gleiche Recht auf Integrität seiner Kommunikation haben wie ein Staatschef.

Für Angela Merkel war und ist die Online-Welt ja bekanntlich "Neuland".

Die Aussage kam ja nicht von ungefähr. Dass ihr Handy abgehört wurde, hat der Kanzlerin klar gemacht, dass dies keine Spielerei von Nerds ist. Immer mehr Leute merken, dass sie besser auf ihre persönliche Informationen achten müssen und mehr Technikverständnis brauchen. Hoffentlich denken auch viele Spitzenpolitiker um, denn es geht ja um eine gesellschaftliche Weiterbildung.

Wieso ist eine Art von Erziehung nötig?

Wir stehen ja am Anfang einer Zeitenwende, die Lage ähnelt jener zu Beginn der industriellen Revolution. Wir wissen, dass sich da irgend etwas abspielt, aber keiner hat eine Vorstellung, was genau geschehen wird. Die technische Revolution wird zu gewaltigen Umwälzungen führen, und die müssen begleitet werden, damit unser demokratisches System schritt halten kann. Dies gilt etwa bei der Frage, welche Gesetze und Regeln eigentlich für Internetkonzerne oder auf deren cloud-basierten Plattformen gelten und wie wir Bürgerinnen und Bürger diese mitbestimmen können.

"Die dürfen ja nicht mal sagen, dass sie überhaupt etwas tun"

Das Europaparlament hat früh mit der Aufarbeitung der Massenüberwachung begonnen. Wieso reagierten die Abgeordneten in Brüssel schneller als die Kollegen im Bundestag?

Hier im Europaparlament gibt es bereits eine größere Wahrnehmung dafür, wie relevant technische Vorgänge und Datensammlungen sind. Das liegt nicht daran, dass die Leute hier schlauer sind, aber wir mussten uns schon länger damit auseinandersetzen. Das fing mit dem Echelon-Untersuchungsausschuss in den Jahren 2000/2001 an und ging weiter mit den Gesetzen über die Sammlung von Bank- und Fluggastdaten und deren Austausch mit den USA. Auch Internet-Themen wie die Softwarepatente-Richtlinie, das Telekom-Paket oder das ACTA-Abkommen haben viele sensibilisiert. Gerade das jetzige Parlament hat da einen sehr großen Sachverstand.

In den Sitzungen dieser Sonderuntersuchung zur NSA-Affäre wird sehr kritisch gefragt. Anfang der Woche verhehlten Ihre Kollegen nicht den Frust über die Aussagen der Vertreter von Google oder Facebook.

Das ist einfach der Modus, wenn man etwas herausfinden will, ohne allzu viele Druckmittel zu haben. Wir können weder die Firmen noch die Kommission zwingen, etwas gegen das Handeln der Geheimdienste zu tun. Wir sind auf Öffentlichkeit angewiesen, das ist das Wichtigste. Deshalb fragen wir hart nach.

Warum schicken die Internetkonzerne dann Vertreter, wenn sie dies gar nicht müssten?

Ganz einfach: Die internationalen Firmen wissen, was für sie auf dem Spiel steht. Diese Debatte kann dazu führen, dass die Menschen ihren Diensten nicht mehr trauen und sie erheblich an Einfluss und Marktmacht verlieren. Ich habe schon den Eindruck, dass hier grundsätzlich der Wille besteht, zu liefern. Aber dazu muss der Druck der Verbraucher und deren Entscheidungsfreiheit größer werden.

Viele Internetfirmen sagen, sie würden ja gerne die an sie gerichteten Anfragen von US-Behörden veröffentlichen.

Genau, es ist diese Geheimhaltungspolitik der amerikanischen Regierung und vielleicht auch einiger EU-Regierungen, die den Firmen einen Maulkorb verpasst. Die dürfen ja nicht mal sagen, dass sie überhaupt etwas tun. Die Diskussion über diese Geheimgerichtsbarkeit hat hierzulande noch gar nicht begonnen, finde ich. Wir müssen die Struktur der Geheimdienste und ihrer Kontrolle grundsätzlich neu diskutieren.

Wie stark ist der Einfluss der Tech-Lobbyisten hier in Brüssel?

Der ist sehr groß. Verglichen mit 2009 wird hier mittlerweile enorm viel investiert. Diese Konzerne sind ja nicht ohne Grund die größten Firmen der Welt, die sind an der Börse mehr wert als Danone oder Volkswagen. Sie wissen, dass Brüssel und Washington die beiden Orte sind, an denen Gesetze diskutiert und beschlossen werden, die sie betreffen. Hier wird alles versucht, um eine stärkere Regulierung zu verhindern und diese Auseinandersetzung führen wir gerade.

Edward Snowden hat auch enthüllt, wie aktiv das EU-Mitglied Großbritannien spioniert - Stichwort Tempora. Wie reagieren Ihre britischen Kollegen auf die Meldungen?

Fast alle sehen, dass sich London falsch entschieden hat, indem sie den USA einfach gefolgt sind beim Spionieren. Die britische Regierung verteidigt aber alles, was geschehen ist und was ihre Geheimdienste tun. Die britischen Europaparlamentarier wissen aber, dass dies dem europäischen Recht widerspricht und nicht angemessen ist. Es fällt ihnen daher schwer darüber zu sprechen, weil die Cameron-Regierung jeglichen Dialog verweigert. Das wird noch eine schwierige Auseinandersetzung in den nächsten Jahren.

Die Briten bremsen ja nicht nur bei der Datenschutzverordnung, sondern auch Ansätze wie eine abhörsichere europäische Cloud würden ja bei dieser Haltung Londons wenig bringen.

Wir Europäer müssen intensiv diskutieren, welche Werte uns wirklich wichtig sind und wie wir sie verteidigen wollen. Offensichtlich gibt es da verschiedene Vorstellungen und Großbritannien ist auf dem direkten Weg aus der Union raus. Sie wollen nicht mehr bei europäischer Gesetzgebung nicht mehr mitmachen oder auch die Kooperation bei der Polizei- und Justizarbeit beenden. Aber es kann ja nicht sein, dass europäische Gesetze nicht lückenlos in Europa überall gelten.

"Es fehlt an politischer Führung"

Der italienische Premier Enrico Letta warnte jüngst vor großen Erfolgen von populistischen Anti-EU-Parteien bei der Europawahl. Er fürchtet, diese könnten künftig mehr als ein Viertel aller Abgeordneten stellen. Übertreibt Letta?

Die Berechnung, dass 2014 ein Viertel der neuen Abgeordneten zu populistischen Parteien gehören könnten, ist absolut realistisch. Das ist sehr erschreckend, aber es zeigt auch, dass die Politik den Bürgern nicht klar machen kann, dass sie sich um ihre Bedürfnisse und Sorgen kümmert. Die Datenschutzverordnung ist ein Beispiel, wo dies möglich wäre. Die Menschen in Europa wünschen sich, dass ihre Rechte europaweit geschützt werden, doch die Politik setzt das noch nicht konsequent durch.

Die Begeisterung für Europa hat definitiv nachgelassen.

Das ist ein Versagen der letzten 10 bis 15 Jahre, als viele Politiker geglaubt haben, dass man einen gemeinsamen Markt ohne wirtschaftliche Koordinierung und soziale wie rechtsstaatliche Standards durchsetzen kann. Die Enthüllungen von Edward Snowden haben ja gezeigt, dass keine nationalen Grenzen mehr gibt - in der Datenverarbeitung, aber auch anderswo. Wir müssen hier zusammenarbeiten, wenn wir unsere Überzeugungen weltweit durchsetzen wollen.

Ist das nötig?

Vielen ist scheinbar nicht bewusst, dass freie und demokratische Rechtsstaaten weltweit nicht in der Mehrheit sind. Wenn wir aber die Errungenschaften der letzten Jahrhunderte auch in der digitalen Zeit gegenüber China, Russland oder anderen Autokratien verteidigen wollen, müssen wir uns als Europäer auf unsere Werte und Rechtsrahmen einigen. Dann können wir auch besser mit den Amerikanern reden, die wir auch an unsere gemeinsamen Ideale erinnern müssen. Wir sollten versuchen, mit ihnen gemeinsam voranzugehen. Aber hier fehlt es an politischer Führung - auch die Bundeskanzlerin macht bislang überhaupt nicht klar, dass sie diese Transformation will.

Linktipps: Ein ausführliches Porträt über Jan Philipp Albrecht sowie die Chef-Lobbyistin von Facebook in Brüssel erschien kürzlich in der ZEIT. Dieser SZ-Artikel fasst die wichtigsten Punkte der Datenschutzverordnung zusammen. Warum die Vertreter von Google, Microsoft und Facebook bei der letzten Anhörung der Sonderuntersuchung des Parlaments sich weniger als Lobbyisten, sondern wie Bürgerrechtler präsentierten, ist hier nachzulesen.

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