Brüssel:EU-Parlament sucht Nachfolger für Martin Schulz

European People's Party and Socialists & Democrats meeting on rea

Die Abgeordneten des EU-Parlaments entscheiden nicht nur, wer Nachfolger des scheidenden Parlamentspräsidenten Martin Schulz wird. Zur Diskussion steht auch, wie das Amt in Zukunft verstanden wird - und ob die große Koalition hält.

(Foto: Olivier Hoslet/dpa)
  • Die Europäische Volkspartei sucht einen Nachfolger für Martin Schulz als Präsident des EU-Parlaments.
  • Um das Amt bewerben sich der französische ehemalige Minister Alain Lamassoure, die derzeitige Stellvertreterin von Schulz aus Irland Mairead McGuiness, der frühere slowenische Ministerpräsident Alojz Peterle und der frühere EU-Kommissar Antonio Tajani aus Italien.
  • Tajani gilt als Favorit, allerdings ist seine Rolle in der Abgasaffäre umstritten.

Von Daniel Brössler und Alexander Mühlauer, Brüssel

Das Treffen ist als "außerordentliche Sitzung" anberaumt, was die Sache ziemlich gut beschreibt. Am diesem Dienstagabend sind die 214 Abgeordneten der Europäischen Volkspartei (EVP) in Straßburg geladen, ihren Kandidaten für die Nachfolge von Martin Schulz als Präsident des EU-Parlaments zu wählen. Außerordentlich ist das, weil die Auswahl für den Spitzenposten üblicherweise auf dem Wege diskreter und weniger diskreter Absprachen stattfindet - im Wesentlichen aber vor der Abstimmung feststeht. Diesmal aber fehlt ein Favorit, Versuche, EVP-Fraktionschef Manfred Weber (CSU) auf den Schild zu heben, sind gescheitert - nicht zuletzt an Weber selbst. "Das Ergebnis ist vollständig offen. Das gab es noch nie", freut sich der 68-jährige Slowene Alojz Peterle, einer von vier Bewerbern.

Die Abstimmung führt tief ins Innenleben des Europäischen Parlaments und ist für die Machtbalance in Brüssel von größter Bedeutung. In seiner fünfjährigen Amtszeit hatte Schulz den Posten zu einer machtvollen Schaltstelle ausgebaut, die kaum noch etwas zu tun hatte mit dem Gebaren nationaler Parlamentspräsidenten, die dem Tagesgeschäft eher entrückt sind. Bei der Kandidatenkür stimmen die EVP-Abgeordneten nun deshalb auch darüber ab, wie viel von dieser Schaltstelle übrig bleibt, ob die informelle große Koalition mit den Sozialdemokraten fortgesetzt werden soll und auch, ob die EVP als größte Fraktion ihren Anspruch auf den Präsidentenposten überhaupt durchsetzen kann. Auch der Chef der Sozialdemokraten, Gianni Pittella, nämlich hat seine Kandidatur und damit das Ende der Koalition erklärt.

Die Kandidaten kommen aus Frankreich, Irland und Slowenien

"Trotz des Säbelrasselns von Herrn Pittella bin ich überzeugt, dass am Ende die große Koalition ehrhalten bleibt", sagt der 72 Jahre alte französische Bewerber Alain Lamassoure, der in den Neunzigerjahren Minister in Paris war. Bis zur Niederlage von Ex-Premier Alain Juppé in den französischen Präsidentschaftsvorwahlen punktete er mit seiner Nähe zu diesem. Im Unterschied zu seinen Mitbewerbern orientiert sich Lamassoure an der Amtsführung von Schulz, der die Möglichkeiten des Vertrages von Lissabon geschickt genutzt habe. "Martin Schulz hat da eine wichtige Rolle gespielt. Ich muss ihm dafür Respekt zollen", sagte Lamassoure der SZ. Auch auf Sorgen von EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker, der Weggang von Schulz gefährde die Stabilität der EU, hat der Franzose eine Antwort: "Ich kann Stabilität garantieren. Ich kenne Herrn Juncker mindestens so lange wie Herr Schulz."

Ganz anders präsentiert sich Mairead McGuinness. Die 57-jährige Irin ist bisher eine der Stellvertreterinnen von Schulz und zeigt weder eine besondere Nähe zu Juncker, noch tritt sie als Verfechterin der großen Koalition auf. Alle proeuropäischen Gruppen müssten zusammenarbeiten, fordert sie vielmehr. Und: "Wir müssen sicherstellen, das wir in den zentralen Fragen in der Lage sind, Kompromisse zu schließen." Während die Bataillone der Irin in der EVP-Fraktion als überschaubar beschrieben werden, gilt sie in andere Fraktionen hinein als ziemlich gut verdrahtet und erfreut sich großer Beliebtheit etwa bei den Grünen. Bei der Abstimmung dürfte das eine Rolle spielen, weil die EVP mit einem Bewerber, der nur in der eigenen Fraktion stark ist, sicher scheitern wird.

Darauf setzt auch der frühere slowenische Ministerpräsident Peterle. Nach dem Polen Jerzy Buzek 2004 sei es wieder an der Zeit für einen Parlamentspräsidenten aus den neuen Mitgliedstaaten, erklärt er. Peterle, der gelegentlich mit seiner Mundharmonika durchs Parlament zieht und etwa Lili Marleen zum besten gibt, betont seinen "inklusiven Charakter" und kann auf Stimmen aus dem östlichen Teil der EU hoffen. "Ich will kein Präsident, sondern Sprecher sein", sagt er. Und: "Sich um Koalitionen zu kümmern, ist Sache der Fraktionschefs." Damit grenzt er sich klar ab von Schulz. Wie McGuinness kommt Peterle damit auch dem eher repräsentativen Jobprofil entgegen, das Fraktionschef Weber für den Präsidentenjob entworfen hat. Weber hat klargestellt, dass er die Macht zurück zu den Fraktionschefs holen will. In der EVP wird Weber, der öffentlich neutral auftritt, auch deshalb eine Präferenz für McGuinness nachgesagt.

Der Favorit kommt aus Italien und setzt auf die Industrie

Als gar nicht so heimlicher Favorit aber galt zuletzt der 63-jährige Italiener Antonio Tajani. Er ist bestens vernetzt, besonders bei den südeuropäischen Kollegen im Parlament, und gilt als versierter Strippenzieher. Seit 1994 ist er in Brüssel, damals wurde in Italien gerade Silvio Berlusconi zum ersten Mal Ministerpräsident. Tajani war so etwas wie dessen Statthalter in der EU-Kapitale. Nach außen hin hält er sich jedoch am liebsten bedeckt. Wer Schulz folgen soll? "Ein Kandidat der EVP braucht die größtmögliche Mehrheit im Parlament", sagt Tajani. Fraktionsintern ließ er verbreiten, er habe auch aus anderen Fraktionen die Südschiene auf seiner Seite, also die Kollegen aus Italien, Spanien, Portugal und sogar Teile der Franzosen.

Als EU-Kommissar war der gebürtige Römer erst für Verkehr, dann für die Industrie zuständig. Und das merkt man noch heute, Industriepolitik ist für ihn das beste Mittel, um die hohe Arbeitslosigkeit im Süden Europas einzudämmen. Sein wohl größter Makel ist ein Vorwurf, den er einfach nicht ganz los wird: Als Industriekommissar habe er nicht strikt genug eingegriffen, als VW und andere Dieselmotoren manipulierten, um Abgasgrenzwerte einzuhalten. Er selbst beteuert, weder er noch sein Kabinett seien damals über Manipulationen informiert gewesen. Schon seit 2011 habe es aber eine Arbeitsgruppe gegeben, so Tajani, die das vorangetrieben habe, was die EU-Kommission jetzt erneut fordert: Abgastests mit Autos, die nicht im Labor stehen, sondern auf der Straße fahren. Nachzuweisen war Tajani bislang keine Verstrickung in die Abgasaffäre, aber in Brüssel bleibt das Geraune vom ehemaligen Industriekommissar, der noch immer sehr autofreundlich ticke. Schwer zu sagen, ob das mehr Stimmen kostet als es einbringt.

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