EU-Parlament:Ratlos in Straßburg

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Im EU-Parlament spiegelt sich die Enttäuschung und die Ratlosigkeit wider, die Politiker aller Fraktionen nach dem Brexit-Referendum erfasst hat.

Von Thomas Kirchner, Straßburg

EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker hat sich gegen einen größeren Umbau der Europäischen Union ausgesprochen. Er weigere sich, nach dem britischen Votum zum Austritt aus der EU nun "alles auf den Prüfstand zu stellen", sagte der Luxemburger am Dienstag vor dem Europaparlament. "Dies ist nicht der Moment, die Verträge zu ändern", sagte Juncker. Stattdessen müsse das gemeinsam beschlossene Arbeitsprogramm beschleunigt umgesetzt werden. Es gehe um Vorhaben wie den Aufbau des digitalen Binnenmarkts, der Kapitalmarktunion und der Energieunion. Rufe nach seinem Rücktritt wies Juncker zurück und griff die Brexit-Befürworter scharf an.

Junckers Plädoyer für ein "Weiter so, nur schneller" richtete sich indirekt gegen EU-Parlamentspräsident Martin Schulz. Der SPD-Politiker hatte gefordert, die EU-Kommission zu einer "echten europäischen Regierung" umzubauen. Diese solle vom EU-Parlament und einer zweiten Kammer aus Vertretern der Mitgliedstaaten kontrolliert werden und könnte von den Bürgern abgewählt werden.

Die Debatte in Straßburg spiegelte die Enttäuschung, aber auch die Ratlosigkeit wider, die viele europäische Politiker nach dem Referendum in Großbritannien erfasst haben. Eine klare Richtung, wie die EU auf die historische Abstimmung reagieren solle, ließ sich aus den Redebeiträgen nicht herauslesen. Während einige empfahlen, nun mutig nach vorn zu schreiten und sich noch enger zusammenzuschließen, sprachen sich andere für ein bescheideneres Europa aus, und wieder andere beschimpften vor allem die britischen Politiker, die den Brexit herbeigeführt haben.

So auch Juncker. Wer 40 Jahre lang behauptet habe, die EU schränke die Freiheit ein oder sei eine Kampfmaschine des Großkapitals, dürfe sich jetzt nicht wundern, sagte er. "Es wurde über Jahrzehnte gelogen, und das Resultat ist jetzt da." Brexit-Befürworter wie Boris Johnson und (der in Straßburg nicht anwesende) Nigel Farage verließen nun, statt einen Plan für die Austrittsverhandlungen mit der EU zu entwickeln, als "traurige Helden" die Bühne. "Patrioten gehen nicht von Bord, wenn die Lage schwierig wird. Dann bleiben sie."

Der liberale Fraktionschef Guy Verhofstadt sprach gar von "Ratten, die das sinkende Schiff verlassen". Er plädierte für eine Umkehr der EU. Laut Umfragen forderten die Bürger auf vielen Gebieten mehr Europa, nicht weniger. Sie wollten einen europäischen Grenzschutz, eine gemeinsame Asylpolitik, eine europäische Armee. Ihnen müsse eine neue Vision geboten werden. An Kommission und Regierungen gerichtet, rief Verhofstadt: "Was Sie tun, ist, schlafzuwandeln in ein Desaster." Neben dem Liberalen lehnten auch Sozialdemokraten und Linke die Forderung von Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble ab, EU-Projekte notfalls an der Kommission vorbei in Form einer Zusammenarbeit der Regierungen voranzubringen.

Mit die stärkste Selbstkritik übte der niederländische Ministerpräsident Mark Rutte, der eine Bilanz der abgelaufenen EU-Ratspräsidentschaft seines Landes zog. Die Union sei dringend nötig, sagte er, weil sich viele Probleme nur gemeinsam lösen ließen. Sie sei noch immer ein "work in progress", bei dem es eben Schritt für Schritt voran, manchmal aber auch zur Seite oder rückwärts gehe. Und doch müsse nun dringend etwas geändert werden. "Die schlechtestmögliche Reaktion auf den Brexit wäre, wenn Brüssel und die europäischen Hauptstädte einfach so weitermachten wie bisher."

© SZ vom 06.07.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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