EU:Merkel und May ringen um Europas Zukunft

BK Merkel trifft PM May

Bundeskanzlerin Angela Merkel fordert von der britischen Premierministerin Theresa May Pläne für ein "gemeinsamen" Europa.

(Foto: picture alliance / Michael Sohn/)
  • Verteidigung, Grenzsicherung, Flüchtlinge: Kanzlerin Merkel ringt mit Europas Staatschefs um die Zukunft der EU.
  • Merkel erwartet von der britischen Premierministerin May detaillierte Pläne zur künftigen Bindung an die EU.

Von Stefan Kornelius

Das Orakel hat gesprochen, nun darf gerätselt werden. Gleich zweimal in nur wenigen Tagen hat Bundeskanzlerin Angela Merkel eine politische Formel in den Mund genommen, die in den Staatskanzleien des Kontinents und bei den professionellen Europa-Deutern prompt erhebliches Aufsehen verursachte. Die Geschichte habe gezeigt, so die Kanzlerin beim Brainstorming-Gipfel in Malta, "dass es auch eine EU der zwei Geschwindigkeiten" geben wird, "dass nicht immer alle an den gleichen Integrationsstufen teilnehmen werden". Wenige Tage später in Warschau legte sie nach: Zwei Geschwindigkeiten bei der Integration, die gebe es in manchen Politikfeldern schon seit Langem. Und künftig werde es sie noch viel häufiger geben.

Bei Merkel weiß man: Sie mag in Rätseln sprechen, aber sie redet nicht unbedacht daher. Wenn die Kanzlerin also die zwei Geschwindigkeiten bemüht, dann steht dahinter eine grundlegende Einsicht: Es geht in der EU gerade um alles. Merkel sucht den Kampf mit denen, welche die Gemeinschaft zerstören wollen.

Zwei Kräfte zerren momentan an der EU. Da sind zunächst die Briten, die mit ihrem Austrittswunsch gewissermaßen die Pforte zur Hölle geöffnet haben. Ihre Verhandlungen über die künftige Anbindung an die EU könnten zur Blaupause geraten für jene Europa-müden Staaten, die gerne von den Vorzügen der Gemeinschaft profitieren, Pflichten aber ablehnen. Dazu zählen aus Berliner Sicht neben den Briten die Polen und Ungarn.

Was heißt EU heute, was bedeutet "Nation"

Auf der anderen Seiten stehen die Über-Europäer, die man vor allem in Brüssel findet und die immer enger zusammenrücken wollen. "Herz-Jesu-Europäer" werden sie in Berlin despektierlich genannt. Merkel sind beide Gruppen suspekt.

Wenn die EU Ende März den 60. Geburtstag ihrer Gründungsverträge feiert, dann soll nicht weniger als ein Manifest für die nächsten zehn Jahre entstehen: Was heißt EU heute, was bedeutet "Nation", was soll künftig Brüssel machen, wo hat die Gemeinschaft überzogen? Merkel hat auf Malta und davor klargemacht, wo sie die EU sieht: Zusammenarbeit dort, wo es zusammen besser geht - bei Verteidigung, Grenzsicherung, Flüchtlingen. Rückbau dort, wo die EU überdehnt ist - bei "Regulierungen bis zum Kaffeelöffel", wie ein hoher Regierungsbeamter sagt, wo also Brüssel das Leben der Europäer bis in die Einzelheiten normieren will.

Die Vorbereitung für diese Generalinventur wurde durch das Brexit-Votum des britischen Unterhauses am vergangenen Donnerstag nicht leichter. Der frühe Zeitpunkt der Abstimmung bedeutet, dass die Briten wohl bereits Anfang März den Austrittswunsch offiziell erklären werden. Das heißt aber auch, dass der März-Gipfel in Brüssel und der Festtags-Gipfel in Rom wenige Wochen später von einer schrillen Austrittsdebatte überlagert werden.

Kaczyński will eine groß angelegte Vertragsänderung

Premierministerin Theresa May hat schon seit Monaten ihre Pokerhaltung eingeübt, und es gibt EU-Regierungen, die den Briten großzügig entgegenkommen wollen - um des lieben Friedens willen. Merkel erwartet hingegen von ihrer britischen Kollegin detaillierte Pläne zur künftigen Bindung an die EU. Die Damen bereiten sich aufs Endspiel vor. Einen ganz anderen Vorstoß plant Polens Regierung - deren heimlichen Übervater, Jarosław Kaczyński, traf Merkel vorigen Dienstag in Warschau. Kaczyński hat ganz eigene Pläne mit der EU.

Er will eine groß angelegte Vertragsänderung durchsetzen, das Parlament in Straßburg entmachten, das Einstimmigkeitsprinzip im EU-Rat wieder einführen und damit ein Vetorecht für jede Regierung. Außerdem möchte er das Vorschlagsrecht der Kommission abschaffen. Merkel sieht die Sonderwünsche mit Sorge - zu viele Kräfte treiben die EU auseinander. Darum stellt sie nun die Formel von den unterschiedlichen Geschwindigkeiten dagegen, was im Klartext bedeutet: Wer bei der Verteidigung nicht mitmachen will, soll eben draußen bleiben - aber auch nicht blockieren.

Schluss mit der Extrawurst-Politik

Was in südeuropäischen Hauptstädten bereits als Warnung an Reformverweigerer interpretiert wird und in Paris als Liebäugelei mit dem schon lange diskutierten EU-Finanzminister, hat für Merkel eine pragmatische Essenz: Schluss mit der Extrawurst-Politik, Konzentration auf das Wesentliche. Und das ist für Merkel dies: Sie will Sicherheitspolitik und Terrorabwehr bündeln und die Migration bewältigen. "Wer glaubt, alles in der Union blockieren zu können, dem muss man andere Formen der Zusammenarbeit vor Augen halten", heißt es im Kanzlerinnen-Orbit.

Ob sie ihren Willen durchsetzt, entscheidet sich am Ende - wie immer in Europa - am Geld. Da hat Deutschland den größten Hebel, auch wenn es Merkel tunlichst vermeidet, über ihr bestes Druckmittel zu sprechen. Der nächste EU-Haushalt wird auch erst 2021 gebraucht. Die Gespräche zur sogenannten finanziellen Vorschau beginnen aber bereits dieses Jahr.

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