EU-Kommissionspräsident gesucht:Merkel ermahnt das Europaparlament

Wird Juncker Kommissionspräsident? Das EU-Parlament hat sich schon festgelegt - zum Ärger der Staats- und Regierungschefs. Kanzlerin Merkel richtet deutliche Worte an die europäischen Volksvertreter. Und alle Seiten argumentieren mit den Verträgen. Der Kampf um das Sagen in der EU ist bereits in vollem Gange.

Von Cerstin Gammelin, Brüssel

Als Bundeskanzlerin Angela Merkel um kurz vor Mitternacht in Brüssel vor die Presse trat, hatte sie einige allgemeine Aussagen vorbereitet. Über die neuen Aufgaben der mächtigsten Behörde Europas, der EU-Kommission, und über die Suche nach dessen Präsidenten. Und sie hatte nach dem Abendessen mit den anderen 27 Staats- und Regierungschefs eine Warnung dabei, die deutlicher kaum hätte ausfallen können.

"Wir alle wissen, dass das Nichteinhalten von Verträgen uns schon einmal an den Rand der Katastrophe gebracht hat", sagte sie nach längeren Ausführungen über das zu bestimmende europäische Spitzenpersonal. Weswegen sie jetzt dazu aufrufe, ebenjene Verträge zu beachten.

In den Verträgen stehe nun einmal: der Europäische Rat, also die Runde der 28 Staats- und Regierungschefs, schlage mit qualifizierter Mehrheit einen Kandidaten für das Amt des Kommissionspräsidenten vor. Das Europäische Parlament wähle diesen Kandidaten dann mit einfacher Mehrheit. Und, für den Fall, dass es der letzte Zuhörer noch nicht verstanden haben könnte, fügte die Kanzlerin hinzu: "Wir spüren in uns die Aufgabe, einen Vorschlag zu machen."

Affront gegen die EU-Häuptlinge

Zwar sagte die Kanzlerin nicht, wer da auf bestem Wege sein könnte, die Gemeinschaft durch das Missachten der Verträge erneut an den Rand der Katastrophe zu bringen. Doch der Adressat lässt sich nicht schwer erraten: das Europäische Parlament.

Die Volksvertreter hatten sich wenige Stunden vor dem Sondertreffen der Staats- und Regierungschef auf Jean-Claude Juncker, den Spitzenkandidaten der Europäischen Volkspartei (zu der CDU/CSU gehören), als EU-Kommissionschef geeinigt. Er solle nun mit der Suche nach einer Mehrheit der Volksvertreter beginnen, die ihn wählen könnte. Damit stand, wenn auch indirekt, der Kandidat für das mächtigste Amt der Europäischen Kommission schon fest, bevor die Chefs angefangen hatten zu tagen. Aus Sicht der 28 EU-Häuptlinge ein klarer Affront.

Aus Sicht des Parlaments allerdings nicht. Die Volksvertreter argumentieren ebenfalls mit den Europäischen Verträgen, sie legen diese ganz einfach anders aus. Und jeder weiß, dass die Verträge an vielen Stellen hinreichend unklar sind, um unterschiedlich interpretiert werden zu können.

Zu den dehnbaren Artikeln gehört auch die Passage über die Wahl des Kommissionspräsidenten.

Bisher waren die Chefs die Interpreten der Verträge. Jetzt macht ihnen das Europäische Parlament, diese unfertige Volksvertretung, dieses Recht streitig - und löst so ganz nebenbei einen Machtkampf aus. Merkels Reaktion macht deutlich, dass sie nicht gewillt ist, diesen Machtkampf erneut zu verlieren. So, wie sie den vorherigen schon verloren hat.

Macht- statt Rechtsfragen

Die Bundeskanzlerin sah sich bereits entgegen ihrer eigenen Überzeugungen nur aufgrund des vom Europaparlament und dessen Präsidenten Martin Schulz verursachten öffentlichen Drucks gezwungen, dem System von Spitzenkandidaten zuzustimmen. Sie selbst hatte dies bis zuletzt abgelehnt. Erst als die Europäische Volkspartei als einzige proeuropäische Partei ohne Spitzenkandidaten dazustehen drohte, lenkte sie ein.

Das soll ihr nicht noch einmal passieren. Weshalb sie das Parlament warnte, ihr nicht schon wieder etwas aufzwingen zu wollen. Der Kampf um das Sagen in der nächsten Europäischen Kommission ist also bereits in vollem Gange. Denn die Auslegung der EU-Verträge ist eine Macht-, aber keine Rechtsfrage.

Der Demokratie in Europa kann der Streit um das Arbeitsprogramm der nächsten Europäischen Kommission und die Bestimmung des Spitzenpersonals jedenfalls nur guttun. Transparenter waren europäische Machtverhältnisse noch nie.

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