EU-Innenministerrat:Der Zorn der Überstimmten

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Der slowakische Ministerpräsident Robert Fico ging beim EU-Innenministerrat auf volle Konfrontation.

(Foto: AFP)

Noch nie ist in der EU der Mehrheitsentscheid bei einem so heiklen Thema wie der Migration angewandt worden. Die einen jubeln, die anderen drohen.

Von Thomas Kirchner, Brüssel

Am Morgen danach hieß es: Wunden lecken, Scherben aufsammeln, nach vorne schauen. Einige brüllten, andere zeigten sich versöhnlicher. Was man eben so macht, wenn es einen großen Knall gegeben hat in einer Gemeinschaft, in der man trotzdem weiter miteinander leben muss und will. Der Knall, das war nicht der Beschluss des EU-Innenministerrats vom Vorabend über die Verteilung von 120 000 Flüchtlingen aus Griechenland und Italien auf die Unionsstaaten; es war die Art und Weise, wie er zustande kam.

Überraschend schnell passierte das, es gab ja auch nur diesen einen Punkt auf der Tagesordnung der Minister, und alle Argumente waren seit Wochen hin und her gewälzt worden. Knapp drei Stunden nach Beginn sagt der Luxemburger Jean Asselborn als Vertreter der Ratspräsidentschaft: Ein Text, mit dem alle zufrieden sein könnten, liege auf dem Tisch, er wolle jetzt eine Entscheidung. "Wer ist dagegen?" Vier Arme gehen hoch: Ungarn, die Slowakei, Tschechien und Rumänien. Etwas kleinlauter gibt der finnische Minister zu Protokoll, dass er die Vorlage gut finde, sich aus innenpolitischen Gründen aber leider enthalten müsse. Die Sitzung ist geschlossen.

Da war sie also, die ominöse Mehrheitsentscheidung, gestützt auf Artikel 78,3 des Vertrags über die Arbeitsweise der EU, in dem es um Notfälle in der gemeinsamen Asylpolitik geht. Mehrmals hatte vor allem Deutschland damit gedroht, dann wieder eingelenkt. Rechtlich ist ein solcher Vorgang nichts Ungewöhnliches, im Gegenteil. Die Spannung zwischen Einstimmigkeit und Mehrheitsentscheidung begleitet die Union seit ihrer Gründung. Weil man verhindern wollte, dass einer oder wenige Staaten die anderen blockieren können, wurde die Mehrheitsentscheidung auf immer mehr Politikfelder ausgeweitet. Im Binnenmarkt und in der Landwirtschaft ist sie heute eher Regel als Ausnahme.

Der slowakische Ministerpräsident spricht von einem "Diktat"

Bei einem derart heiklen und die Souveränität der Länder berührenden Thema wie der Migration hingegen ist sie noch nie angewandt worden. Daher das Gepolter der Überstimmten, die nun gegen ihren Willen so viele Flüchtlinge aufnehmen müssen, wie es die anderen beschlossen haben.

"Nur die Zukunft wird zeigen, welch ein Fehler dies war", schimpfte der tschechische Präsident Miloš Zeman, während der slowakische Ministerpräsident Robert Fico auf volle Konfrontation ging: Er riskiere lieber ein Strafverfahren, als ein solches "Diktat" zu akzeptieren. Bei genauerem Hinschauen war die Front der Osteuropäer aber alles andere als geschlossen. Zum einen wegen des Visegrád-Staates Polen, der überraschend ausscherte. Den Polen war man mit der Option entgegengekommen, die Pflichterfüllung um bis zu zwölf Monate verschieben zu können. Allerdings hätte auch ein polnisches Nein noch nicht für die nötige Sperrminorität gereicht.

Zum anderen kamen auch von den Widerständlern unterschiedliche Töne. Nur die Slowaken wollen es wissen und kündigten tatsächlich eine Klage vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) an. Der tschechische Ministerpräsident Bohuslav Sobotka dagegen erklärte, man dürfe den Bogen nicht überspannen, sonst reiße er. Ein ungarischer Diplomat wiederum sagte, man werde den Beschluss akzeptieren und für die zugewiesenen Flüchtlinge "tun, was wir können" - mit jenem sarkastischen Unterton, den manch ungarischer Offizieller in diesen Tagen pflegt, um sich gegen Kritik von allen Seiten zu wehren.

In der Sache blieb der Diplomat so hart wie andere osteuropäische Kollegen: Der nun beschlossene Plan der EU-Kommission sei absurd, weit weg von der Realität. Das wahre Problem sei Griechenland, das seine Grenze nicht schütze. Dort müsse rasch etwas getan werden, "die Umverteilung ist höchstens der vierte oder fünfte Schritt". Der ganze Plan funktioniere aber nicht, weil er über den Willen der Migranten hinweggehe: "Stellen Sie sich vor, Ali bekommt nach der Registrierung ein Ticket nach Stuttgart, Mohammed eines für Bukarest. Was wird Mohammed wohl machen?"

Die Vorschläge enthalten mehr als die umstrittene Umsiedlung

Die EU-Kommission ficht solche Kritik vorerst nicht an. Sie kann zufrieden sein, dass es endlich mal mit irgendetwas vorangeht in dieser Krise. Zumal ihre nun gebilligten Vorschläge neben der umstrittenen Umsiedlung manch anderes enthalten: die "Hotspots", in denen Flüchtlinge registriert, eingeteilt und gegebenenfalls abgeschoben werden; generell eine bessere Rückführung abgewiesener Migranten, die mehr Zusammenarbeit mit den Herkunftsländern einschließlich höherer Entwicklungshilfe nach sich zieht; eine stärkere Präsenz im Mittelmeer samt Bekämpfung der Menschenschmuggler. "Unsere harte Arbeit in den vergangenen Monaten zahlt sich aus", klopfte sich EU-Migrationskommissar Dimitris Avramopoulos am Mittwoch selbst auf die Schulter.

Zusätzlich soll nun mehr Geld fließen. Die Kommission will die Türkei mit einer Milliarde Euro unterstützen, die Nothilfe für Griechen und Italiener erhöhen und diverse Hilfsfonds und -programme um Hunderte Millionen Euro aufstocken. Und um ein gemeinsames Asylsystem wenigstens formal schneller auf den Weg zu bringen, macht die Behörde nun auch rechtlich kräftig Druck. Am Donnerstag eröffnete sie 40 weitere Verfahren gegen 19 Mitgliedstaaten, 35 laufen schon seit ein paar Wochen. Es geht um Richtlinien, die bisher erst fünf Staaten vollständig in ihr Recht umgesetzt haben: zur Anerkennung von Flüchtlingen, zu den Mindestnormen für Asylverfahren und zu den Aufnahmebedingungen von Asylbewerbern. Auch Deutschland erhält zwei Mahnbriefe. In letzter Konsequenz droht eine Verurteilung durch den EuGH und eine hohe Geldstrafe. Dazu kommt es aber meistens nicht. Die Bundesregierung jedenfalls versprach sofort, sich rasch zu bessern.

Das Vorgehen der Kommission ist doppelt ungewöhnlich. Normalerweise lässt sie den Staaten mehr Zeit, bis sie einschreitet; zum Teil waren diese Richtlinien erst im Mai dieses Jahres in Kraft getreten. Und sie hängt solche Schritte auch selten derart an die große Glocke wie am Mittwoch. Offensichtlich will sie aber eine Botschaft vermitteln: Trödeln verboten, es ist ernst.

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