EU in der Vertrauenskrise:Was Europas Skeptiker antreibt

Euro

Seit der Euro in der Krise ist, ist das Vertrauen in die EU rasant abgesunken. Doch Euroskepsis gab es schon vor Ausbruch der Krise.

(Foto: dpa)

Sie halten die EU für eine ziemlich nutzlose und kostspielige Veranstaltung: In mehreren Ländern könnten die Europaskeptiker bei der kommenden Wahl stärkste Kraft werden. Ist die Ablehnung des europäischen Projekts eine Reaktion auf die Krise oder war das schon immer so? Eine Spurensuche.

Von Kathrin Haimerl

Auf dem Münchner Marienplatz spricht an einem Dienstag Hans-Olaf Henkel, Spitzenkandidat der Alternative für Deutschland für die Europawahl. Er sagt, dass sich die etablierten Parteien schämen sollten. Der Rest geht unter, Antifa-Aktivisten brüllen gegen ihn an. Während Henkel redet, herrscht auf dem Marienplatz Touristentrubel. Japaner fotografieren das Münchner Rathaus. Ein Amerikaner fragt Polizisten, was denn das für eine Veranstaltung sei. Eine Schülergruppe aus Südtirol wartet vor dem AfD-Stand. Die Teenager interessieren sich weniger für das Parteiprogramm, als für die Luftballons. Die sind mit Helium gefüllt, das sie begierig einsaugen, weil das die Stimme so schön kieksig macht. Ein paar Meter weiter echauffieren sich zwei Rentnerinnen.

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Endspurt im Europawahlkampf der AfD. Deren Anhänger sollten wissen, was Euroskepsis heißt. Oder? Nachgefragt bei den Rentnerinnen. "Was mir nicht gefällt - hier weiß keiner, was gespielt wird. Mein Geld ist kaputt. Und was die da, was die immer so erzählen ..." Wer sind die? "Na, die halt. Die Merkel und so." Die Dame, grüner Lodenmantel, schwarzer Hut, zieht empört davon. Die andere sagt: "Ich sehe nicht ein, dass die Deutschen so lange zahlen müssen, bis zum Ende ... ein Rettungsschirm nach dem anderen ..." Musste sie persönlich schon mal was bezahlen? "Ich habe für zwei Mark einen Euro Rente bekommen. So sieht's aus."

So sieht sie also aus, die gefühlte Krise in Deutschland kurz vor der Europawahl. Die AfD plakatiert im Wahlkampf Sprüche wie "Nepper, Schlepper, Euroretter", sie spielt mit einer diffusen Wut, wonach der Euro und die EU eine ziemlich nutzlose und für Deutschland vor allem kostspielige Veranstaltung seien (tatsächlich liegen die Kosten bislang bei null).

Nun sind die Eurokritiker in Deutschland noch in der Minderheit, in einer aktuellen ARD-Umfrage liegt die Partei bei sieben Prozent. In mehreren anderen Ländern hingegen könnten Umfragen zufolge europaskeptische Parteien bei dieser Europawahl stärkste Kraft werden oder etablierte Parteien einholen:

  • Die nationalkonservative Partei Recht und Gerechtigkeit um Jarosław Kaczyński liegt in Polen bei 31 Prozent; das ist insofern bemerkenswert, als die Polen in der EU bislang zu den größten Optimisten gehörten. Die Partei tritt entsprechend gemäßigt euroskeptisch auf, um die Wähler nicht zu verschrecken.
  • Anders die United Kingdom Independence Party (Ukip), die in Großbritannien mit scharfen Angriffen auf die Europäische Union punktet. Die Europa-Gegner stehen in Umfragen bei 30,7 Prozent.
  • In Dänemark liegt die rechtspopulistische Dänische Volkspartei bei 24 Prozent.
  • Die Politische Bewegung ANO (Aktion unzufriedener Bürger) liegt in Tschechien bei 23,6 Prozent.
  • In Frankreich erreicht Marine Le Pens Front National in Umfragen 23 Prozent; dies könnte den rechten Skeptikern im Europaparlament die höchsten Zugewinne bescheren, weil die Franzosen nach Deutschland die meisten Abgeordneten stellen.
  • In Österreich liegt die FPÖ, die mit Wahlsprüchen wie "Wir verstehen eure Wut" wirbt, bei 20,3 Prozent.
  • Die Basisfinnen (früher: Wahre Finnen) in Finnland kommen auf 17,6 Prozent.
  • Geert Wilders Partei für die Freiheit (PVV) liegt in den Niederlanden bei 16,6 Prozent.

Auch linke Euroskeptiker sind in manchen Ländern stark:

  • Die Anti-Merkel-Partei Syriza, ein Bündnis aus verschiedenen mehr oder weniger radikalen linken Gruppen, liegt in Griechenland bei 27 Prozent. Deren Anführer, Alexis Tsipras, ist zugleich europäischer Spitzenkandidat der Linken.
  • Beppe Grillos Fünf-Sterne-Bewegung in Italien steht bei 21 Prozent. Auch die Italiener gehörten bis vor kurzem zu großen Europa-Optimisten.

Das Spektrum der hier aufgeführten Parteien ist breit (Linktipp: SZ-Korrespondenten stellen die wichtigsten Europaskeptiker und ihre Parteien vor). Euro- und Europaskepsis sind schwammige Begriffe, die so ziemlich alle negativen Gefühle gegenüber der EU und den Euro umfassen. Das reicht von Kritik an einzelnen Politikbereichen über Misstrauen gegenüber den Institutionen bis hin zur grundsätzlichen Ablehnung des europäischen Einigungsprozesses.

Nun sind in manchen Ländern - wie die Liste oben zeigt - die Skeptiker sehr stark, umgekehrt aber gibt es nicht in allen Krisenländern eine nennenswerte rechtspopulistische Partei. In manchen Staaten verzeichnen die Skeptiker Zugewinne, diese werden aber durch die Verluste in anderen Staaten fast wieder ausgeglichen. Die Zahlen passen nicht so recht mit der Theorie zusammen, wonach die Krise eine Welle an Europaskeptikern ins Europäische Parlament schwemmen wird, schreibt der niederländische Forscher Cas Mudde.

Trotzdem gibt es einen Zusammenhang mit der Krise, zumindest zeitlich. Die Experten vom European Council on Foreign Relations haben im vergangenen Jahr Daten aus dem Eurobarometer ausgewertet. Die Analyse belegt, dass das Vertrauen in das europäische Projekt seit Ausbruch der Krise rasant gefallen ist, in Deutschland von +20 Punkten im Jahr 2007 auf -30 Punkte, in Frankreich von +10 auf -35 Punkte, in Italien von +30 auf -39 Punkte und in Spanien von +42 auf -52 Punkte. Sogar die polnischen Europa-Optimisten kommen nur mehr auf +6 Punkte, vorher waren es +50 (Ein Blick in die aktuellen Daten von Herbst 2013 zeigt, dass sich an der Grundtendenz nicht viel geändert haben dürfte, siehe Seite 79 vom Eurobarometer).

Die Krise wirkt als Verstärker der Euroskepsis, nicht als Auslöser, erklärt Josef Janning, Senior Policy Fellow beim European Council on Foreign Relations (ECFR) in Berlin, auf SZ-Anfrage. "Wo das Krisenmanagement Besitzstände der Menschen infrage stellt, im Norden wie im Süden, begünstigt dies die Kritik." Dies umso mehr, wenn die Rettungspolitik als alternativlos dargestellt werde.

Grundsätzlich ist es so: Vertrauen die Menschen der Politik, dann akzeptieren sie auch Entscheidungen, deren Nutzen sie fürs eigene Interesse nicht sofort erkennen. Schwindet das Vertrauen, steigt umgekehrt die Ablehnung gewisser Entscheidungen, die Europaskepsis wächst. Der Bürger stellt sich die Frage: Was nutzt mir das europäischen Projekt?

Das Mutterland der Skeptiker

Doch Europaskepsis gibt es nicht erst seit der Krise. Das weiß Björn Kjellström nur zu gut. Der Schwede wirbt in Großbritannien für das Image des Europäischen Parlaments, er leitet das dortige Informationsbüro. Keine leichte Aufgabe, seine Kollegen in den anderen Mitgliedstaaten beneiden ihn nicht darum. Er selbst bezeichnet es als "Herausforderung". Diplomatie gehört zu seinem Job, schließlich spricht er dort für alle britischen Europaparlamentarier. Dazu zählen auch die Abgeordneten von der Ukip, die das Europaparlament am liebsten abschaffen würden. Zur Euroskepsis der Briten äußert sich Kjellström sehr zurückhaltend, nur so viel: "Die gab es hier lange vor der Krise." Prominentes Beispiel dafür ist Margaret Thatcher, die ihre Haltung zu einer Stärkung des Europäischen Parlaments, zu einer gemeinsamen Währung und zu einer zentralen europäischen Bank schon 1990 in folgenden Dreiklang packte: "No. No. No."

Lange Zeit galt Euroskepsis als britisches Phänomen, als schrullige Eigenschaft der Insulaner, die fast panische Angst um ihre nationalen Eigenheiten hatten. Tatsächlich findet sich die britische Flagge im Eurobarometer auch vor 2007 zuverlässig auf einem der letzten Plätze bei der Frage zum Vertrauen in die EU.

Blickt man auf die europäischen Durchschnittsdaten, ändert sich der Eindruck von der Euroskepsis als britische Ausnahmeerscheinung: Seit etwa 1990 weist die Vertrauenskurve in ganz Europa kontinuierlich nach unten. Zu diesem Ergebnis kommt eine lesenswerte Analyse, die mehrere Fragen aus dem Eurobarometer ausgewertet hat. Demnach ist die Stimmung mit dem Vertrag von Maastricht gekippt, der Regelungen enthält, die über eine reine Wirtschaftsgemeinschaft hinausgehen. Die Dänen lehnten ihn ab, in Frankreich fand sich nur eine knappe Mehrheit. Wenige Zeit später folgte das Nein der Niederländer und der Franzosen zum Verfassungsvertrag. Die stillschweigende Zustimmung der Bürger zur europäischen Integration war damit gebrochen.

Die Studie zeichnet ein sehr differenziertes Bild, was die Skepsis wachsender Teile der Bevölkerung gegenüber der EU betrifft. Es gibt demnach keine ungeteilte Unterstützung für die EU, doch die harten Gegner befinden sich klar in der Minderheit. Zwar ist das Vertrauen der Bürger in die EU gering, noch weniger aber vertrauen sie ihren nationalen Parlamenten und Regierungen.

Das wiederum deutet auf ein anderes Problem hin, mit dem auch die Politiker auf der nationalen Ebene zu kämpfen haben: Politikverdrossenheit. "Das ist ein anderer Name für dasselbe Phänomen", sagt Janning vom ECFR. Europaskepsis unterscheide sich dabei lediglich in der Konsequenz: weniger EU, Rückverlagerung von Kompetenzen, Austritt der einen oder Ausschluss anderer. Nach Ansicht der Europaskeptiker ist die Europäische Union das Problem, der Nationalstaat die Lösung.

Politikverdrossenheit äußert sich aber auch in einer absurd niedrigen Wahlbeteiligung. Bei der Europawahl 2009 lag sie gerade einmal bei 43 Prozent. Vieles spricht dafür, dass sie 2014 nicht höher ausfällt. Das stärkt populistische und extreme Parteien, die meist kein Problem damit haben, ihre Wähler zu mobilisieren.

Denn ihre Unterstützer sind meist recht engagiert. So wie die AfD-Anhängerin auf dem Marienplatz, die sich gerade ein Wortgefecht mit einer Antifa-Aktivistin liefert und sich dabei in Rage redet. "Mir geht es doch nur darum, dass wir künftig Abgeordnete im Parlament sitzen haben, die unsere Interessen vertreten!", ruft sie. Die Antifa-Aktivistin erwidert: "Das sind Ihre Interessen, nicht meine."

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