EU-Haftbefehl:17 Häftlinge auf 30 Quadratmetern

EU-Haftbefehl: Eng, schmutzig, stickig: Rumänische Gefängnisse wie das in Jilava sind berüchtigt. Doch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte sieht menschenunwürdige Haftbedingungen nicht nur in Osteuropa.

Eng, schmutzig, stickig: Rumänische Gefängnisse wie das in Jilava sind berüchtigt. Doch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte sieht menschenunwürdige Haftbedingungen nicht nur in Osteuropa.

(Foto: Vadim Ghirda/AP)

Wegen unmenschlicher Zustände in vielen Gefängnissen Europas stoppen Gerichte immer häufiger die Auslieferung von Straftätern. Gefährliche Verbrecher könnten freikommen.

Von Wolfgang Janisch, Bonn

Wer sich mit dem EU-Haftbefehl befasst, der merkt: Das Ding stammt aus einer Zeit, in der es noch europäische Zukunftsträume gab. Der effiziente Auslieferungsmechanismus, der Verdächtige und Straftäter ohne nähere Prüfung auch in Länder mit rustikalen Haftbedingungen schickt, wurde 2002 beschlossen - und war ein geradezu kühner Vertrauensvorschuss an die Justizsysteme der EU-Staaten. Aber ähnlich wie beim Euro dachte man damals: wird schon werden. Klaus Schromek, Vorsitzender Richter am Oberlandesgericht Bremen, muss über solche Auslieferungen entscheiden. Vor ein paar Tagen sprach er beim EU-Strafrechtstag in Bonn eine Warnung aus: "Wir steuern auf eine mittlere Katastrophe zu."

Schromek hat vor zwei Jahren ein Verfahren angestoßen, das den EU-Haftbefehl gewissermaßen auf die Probe stellte. Die Frage lautete: Wie schmutzig, wie winzig, wie stickig muss die Haftzelle sein, die den Häftling erwartet, damit ein Richter die Auslieferung verweigert? Darf die Justiz wirklich darauf vertrauen, dass die drei Quadratmeter "Lebensraum", die als menschenrechtliches Minimum gelten, anderswo eingehalten werden? Oder gilt im Jahr 2017 doch eher das Misstrauens-Prinzip?

Insektenplage im Knast, kaum Intimsphäre - "erniedrigend" ist das, urteilten die Richter

Vorbote der "mittleren Katastrophe", die Schromek befürchtet, war ein Haftbefehl des Amtsgerichts Miskolc in Ungarn, gegen einen Kleinkriminellen, der damit im Schengener Informationssystem ausgeschrieben war; Anfang 2015 wurde er in Bremen festgenommen. Der bürokratische Schriftverkehr mit Ungarn war noch im Gange, da fiel in Straßburg ein Grundsatzurteil. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte - ein Gericht des Europarats, nicht der EU - beanstandete im März 2015 die Bedingungen in den hoffnungslos überfüllten ungarischen Gefängnissen. Die betroffenen Kläger lebten dort auf anderthalb Quadratmetern - bei schlechter Belüftung, mangelnder Intimsphäre und Insektenplagen. Eine "unmenschliche und erniedrigende" Behandlung nach Artikel 3 Menschenrechtskonvention, entschied der Gerichtshof.

Die Bremer Richter wollten über derart eklatante Mängel nicht hinwegsehen und riefen das andere Europa-Gericht an, den Europäischen Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg. Als oberstes EU-Gericht ist dies die maßgebliche Institution fürs EU-Recht - es ging um die Frage, wo bei der Auslieferung die Linie zwischen Vertrauen und Skepsis verläuft. Am 5. April 2016 kam die erstaunliche Antwort, an der die Justiz bis heute zu kauen hat. Ausgeliefert werden sollte nur auf der Grundlage von Informationen, die "das Vorliegen einer echten Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung ... ausschließen".

Ausschließen? Richter in Bremen, München oder Köln sollen nur dann ausliefern dürfen, wenn sie "ausschließen" können, dass in entfernten Winkeln des Kontinents Menschenrechte verletzt werden? Was kann man schon sicher ausschließen, in Gefängnissen wie im ungarischen Baracska, wo man - gerichtlich festgestellt - 17 Häftlinge auf 30 Quadratmeter zusammengesperrt hatte. Oder im rumänischen Rahova, dort teilten sich zehn Mann neun Quadratmeter. Und das gilt nicht nur in Osteuropa. 2013 hat das Menschenrechtsgericht Italien wegen überfüllter Gefängnisse verurteilt, ein Jahr darauf kritisierten es belgische Haftanstalten. Auch der deutsche Strafvollzug ist einst gerügt worden - vom eigenen Verfassungsgericht.

Jedenfalls klang die neue Vorgabe des EuGH nicht mehr nach Vertrauen, sondern nach einer gehörigen Portion Skepsis gegenüber dem Strafvollzug anderer EU-Staaten. Im Oktober 2016 untersagte das Oberlandesgericht (OLG) Saarbrücken eine Auslieferung nach Litauen, im März stoppte auch das Gericht in Celle eine Auslieferung nach Rumänien. Die Statistik spricht für sich: Im Jahr 2014 scheiterte nur eine Auslieferung an den Haftbedingungen, vergangenes Jahr zählte man schon 40 solcher Ablehnungen.

Zwei Europäische Gerichtshöfe und die Bundesverfassungsrichter entscheiden mit

Und als wäre der Pas-des-deux der europäischen Gerichtshöfe nicht schon kompliziert genug, dreht nun auch noch das Bundesverfassungsgericht eine Pirouette. Vor wenigen Wochen stoppten die Richter - unbemerkt von der Öffentlichkeit - per Eilbeschluss eine Überstellung nach Rumänien (Az: 2 BvR 424/17). Das war nun ausgerechnet ein Fall, in dem das OLG Hamburg sich um einen praktikablen Umgang mit den strengen EU-rechtlichen Vorgaben bemüht hatte, schließlich sollte der Auslieferungsverkehr mit fast 5500 überstellten Personen im Jahr 2014 nicht zum Erliegen kommen. Doch das Verfassungsgericht sah hier eine Gefahr für die deutsche "Verfassungsidentität" und will nun eine Verletzung der Menschenwürde prüfen. Obwohl für den EU-Haftbefehl ausschließlich EU-Recht gilt und somit der EuGH die oberste Instanz ist, reklamiert Karlsruhe hier das letzte Wort. Diese Karte hat das Gericht erst ein Mal gezogen, in einem italienischen Auslieferungsfall von 2015.

Nun stehen also drei Köche in der Küche - die Menschenrechts-, die EU- und die Verfassungsrichter. Ganz praktisch fragt man sich, ob angesichts der großen Sensibilität zweier europäischer Gerichtshöfe für prekäre Haftbedingungen der Beistand aus Karlsruhe wirklich nötig ist. Jedenfalls aber wird damit klar, was Schromek mit seiner Ankündigung einer "mittleren Katastrophe" meint. Er meint damit, dass über kurz oder lang ein gefährlicher Straftäter freigelassen werden muss, weil er nicht in die engen Knäste einiger EU-Staaten ausgeliefert werden darf. Im Karlsruher Fall war es nur ein Kleinbetrüger - was aber, wenn es sich um einen Gewaltverbrecher handelt? Wenn eine Auslieferung scheitert, wird kein deutscher Staatsanwalt die Ermittlung übernehmen. Man wird das Gefängnistor aufsperren müssen.

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