EU-Gipfel in Brüssel:Es wird frostig auf dem Gipfel

Auch ein erneutes Gespräch zwischen Bundeskanzlerin Angela Merkel und Polens Präsident Lech Kaczynski hat auf dem EU-Gipfel offenbar keine Annäherung gebracht. Polen fordert nach wie vor ein größeres Stimmengewicht in der Union.

Auch ein erneutes Gespräch zwischen Bundeskanzlerin Angela Merkel und Polens Präsident Lech Kaczynski hat auf dem EU-Gipfel offenbar keine Annäherung gebracht. Weder am Donnerstag noch am Freitagvormittag habe es Fortschritte gegeben, sagte ein polnischer Diplomat in Brüssel.

EU-Gipfel in Brüssel: "Frostige Atmosphäre im Auditorium": Polens Präsident Lech Kaczynski.

"Frostige Atmosphäre im Auditorium": Polens Präsident Lech Kaczynski.

(Foto: Foto: Reuters)

Polen fordert ein größeres Stimmengewicht in der Union. Gegen Mittag war Diplomaten zufolge ein weiteres Treffen Merkels mit Kaczynski geplant. Es wäre das dritte Gespräch innerhalb von zwölf Stunden.

Luxemburgs Ministerpräsident Jean-Claude Juncker sagte, Polen könne eine Art Notbremse angeboten werden. Demnach könnte bei knappen Abstimmungen überprüft werden, ob sich mit der von Polen geforderten Stimmengewichtung oder dem bisherigen System ein anderes Ergebnis ergeben hätte. In diesem Fall sollten bei einer Abstimmung unterlegene Länder das Recht auf eine Fortsetzung der Beratungen um einige Monate haben.

Vor allem die Bedenken Polens und Großbritanniens blockieren eine Einigung auf einen EU-Reformvertrag, der zentrale Elemente der gescheiterten EU-Verfassung retten soll. Umstritten sind neben der Stimmgewichtung auch der Status der Grundrechtecharta und die Zusammenarbeit in der Außen- und Innenpolitik.

Polen hatte zuvor auf dem Brüsseler Krisengipfel vorgeschlagen, den Vertrag von Nizza bis 2020 gelten zu lassen. Diesen Vorschlag habe Staatspräsident Lech Kaczynski Bundeskanzlerin Angela Merkel und Frankreichs Staatspräsident Nicolas Sarkozy während eines nächtlichen Gesprächs gemacht, berichtete der polnische Rundfunk.

Das System der doppelten Mehrheit aus Mitgliedstaaten und Bevölkerungszahl, das von Polen abgelehnt wird, könnte erst danach in Kraft treten. Bei den bis dahin fälligen Haushaltsentscheidungen wären zudem einstimmige Entscheidungen notwendig.

Nach dem Vertrag von Nizza ist Polen im europäischen Rat überproportional stark vertreten.

Die polnische Außenministerin Anna Fotyga hatte in der Nacht zu Freitag gesagt, Polen seien eine Reihe von Vorschlägen gemacht worden, die nun analysiert würden. Aus Delegationskreisen hieß es, keiner dieser Vorschläge sei für Polen allerdings so günstig wie das Quadratwurzelsystem.

Polen will, dass das Stimmengewicht der EU-Staaten an der Quadratwurzel der Bevölkerungszahl berechnet wird. Das würde zu einer Verschiebung des Stimmengewichts zu Gunsten der kleinen und mittleren Mitgliedstaaten führen.

"Frostige Atmosphäre im Auditorium"

Nach Angaben des tschechischen Regierungschefs Mirek Topolanek hat Kaczynski weitere Forderungen vorgelegt. Außer der Änderung des Stimmenverhältnisses verlange Warschau Verhandlungen über den rechtlichen Status der EU und die Außenpolitik des Bündnisses, sagte Topolanek in Brüssel der tschechischen Nachrichtenagentur CTK: "Der Auftritt sorgte für eine frostige Atmosphäre im Auditorium, weil durch ihn offensichtlich wurde, dass Polen nicht zu Kompromissen bereit ist."

Das polnische Staatsoberhaupt habe zudem vorgeschlagen, den Streit um das Stimmenverhältnis aus dem Programm auszuklammern und auf einem Sondertreffen zu behandeln, sagte Topolanek: "Aber auch, wenn sich die Mitglieder darauf verständigen sollten, würde dies nicht bedeuten, dass Polen nachgibt."

Grundsätzlich unterstütze Tschechien Polen im Streit um das Stimmenverhältnis, unterstrich der Regierungschef. Topolanek hatte aber schon früher gesagt, dass Tschechien im Notfall kein Veto einlegen würde. Prags Europaminister Alexandr Vondra sagte, er bereite sich auf schwierige Verhandlungen vor: "Ich habe vier Hemden mitgenommen. Ich schließe nicht aus, dass wir noch an diesem Samstag hier sitzen."

Die Forderungen aus Warschau, Polen müsse als Wiedergutmachung für seine Kriegstoten mehr Einfluss in der EU erhalten, erntete auch heute Kritik von allen Seiten. Der österreichische Bundeskanzler Alfred Gusenbauer sagte im ZDF-Morgenmagazin, Kaczynskis Äußerungen zu den polnischen Kriegstoten hätten in Brüssel "Kopfschütteln auf allen Seiten" ausgelöst. Es sei sinnlos, die Gräben der Geschichte wieder aufzureißen. Vielmehr sei die Europäische Union die Antwort Europas auf die tragischen Ereignisse seiner Geschichte, sagte Gusenbauer. Europaparlamentspräsident Hans-Gert Pöttering (CDU) sagte: "Mich stimmen solche Äußerungen traurig." Sie gehörten nicht ins 21. Jahrhundert.

"Wer mit dem Aufrechnen von Kriegstoten in solche Verhandlungen geht, zeigt, auf welchem Niveau er sich bewegt", sagte der Fraktionsvorsitzende der Sozialdemokraten im Europaparlament, Martin Schulz, dem Handelsblatt. Er habe den Eindruck, der polnische Ministerpräsident Jaroslaw Kaczynski wolle "mit antideutschen Gefühlen innenpolitisch punkten", kritisierte Schulz.

Der bayerische Ministerpräsident und CSU-Vorsitzende Edmund Stoiber erklärte in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Kaczynskis Äußerungen seien "unmöglich". Stoiber fügte hinzu: "Wenn man die Debatte so führt wie Jaroslaw Kaczynski es tut, kann man die europäische Integration vergessen."

SPD-Generalsekretär Hubertus Heil kommentierte Kaczynskis Forderungen in einem Interview des Nachrichtensenders N24 mit den Worten: "Ich kann aus der Geschichte heraus viele Gefühle verstehen. Aber ich glaube nicht, dass das ein hilfreicher Vorschlag ist." Dagegen empfahl der deutsche EU-Kommissar Günter Verheugen mehr Sensibilität im Umgang mit Polen. Der Berliner Zeitung sagte er, in Deutschland würden die politischen Eliten immer noch nicht richtig verstehen, "wie sensibel und wenig belastbar das deutsch-polnische Verhältnis ist".

Neben seiner Kritik an Polens Haltung rief Österreichs Kanzler Gusenbauer allerdings auch die EU dazu auf, mit Zugeständnissen an Polen einen Kompromiss über einen Reformvertrag zu erreichen.

Zu Beginn des wohl entscheidenden Brüsseler Gipfeltages sagte Gusenbauer: "Alle sind sich im Klaren darüber, dass man auch irgendetwas machen muss, damit die Polen an Bord kommen können, ohne dass man jetzt wieder am Punkt null anfängt."

Wenn der politische Wille vorhanden sei, könne es nun recht schnell gehen. Polen dürfe nicht isoliert werden, sagte Gusenbauer. "Das ist für das europäische Einigungswerk nicht gut." Polen will eine Änderung der Stimmgewichtung in der EU erreichen, um den Abstand zu Deutschland zu verringern. Gusenbauer warb zudem für die Einbeziehung des Klimaschutzes in den neuen EU-Vertrag, dessen Eckpunkte auf dem letzten Gipfel unter Leitung von Bundeskanzlerin Angela Merkel festgezurrt werden sollen. Dafür habe es in der ersten Verhandlungsrunde am Donnerstag breite Unterstützung gegeben.

Die meisten Polen lehnen nach einer Umfrage eine kompromisslose Haltung ihres Landes auf dem Brüsseler EU-Gipfel ebenso ab wie eine übermächtige Position Deutschlands. Das ist das Ergebnis einer Umfrage, die die liberale Zeitung Gazeta Wyborcza am Freitag veröffentlichte. Darin gaben 53 Prozent der 500 Befragten an, Staatspräsident Lech Kaczynski solle sich dem Willen der Gipfelteilnehmer beugen, wenn die polnische Forderung nach einem stärkeren Stimmengewicht abgelehnt werde. Nur 38 Prozent sprachen sich in diesem Fall für ein Veto aus.

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