EU-Gipfel:Dumme Späße zwischen Roll- und Beichtstuhl

Berlusconi als Tölpel, Aznar und Miller als Blockierer und Chirac als Schurke im Hintergrund lassen den historischen EU-Gipfel scheitern.

Von Alexander Hagelüken und Christian Wernicke

Brüssel, 14. Dezember - Als alles vorbei ist und der Gipfel gescheitert, braucht der italienische Regierungssprecher nur wenige Sätze. Wozu noch viele Worte machen, wo die italienische Ratspräsidentschaft ihr Ziel so offensichtlich verfehlt hat. Andiamo a casa, sagt der Sprecher in einem der langen Gänge des Ratsgebäudes, "wir gehen jetzt nach Hause".

Wenige Meter weiter redet kurz drauf sein Herr und Meister, und zwischen den beiden Erklärungen liegen Welten. Das Wort Scheitern kommt in Silvio Berlusconis Monolog im Brüsseler Pressesaal nicht vor, Misserfolg auch nicht. Eine Journalistin erwähnt die Kritik an der Verhandlungsführung des derzeitigen EU-Vorsitzenden, an seiner Lust zu Scherzen, die andere vor den Kopf stoßen. "Übernehmen Sie die Verantwortung für das Scheitern des Gipfels?" Die Frage geht Berlusconi an die Ehre. Wie ein Boxer zieht er zur Abwehr die Arme an sich, taxiert er seine Gegnerin. "Da kann ich nur lächeln", sagt er, ohne zu lächeln. "Wenn Sie meinen, dass man nicht mit lustigen Anekdoten die Atmosphäre verbessern kann, wissen Sie nichts über das Führen von Menschen. Ich habe ein Unternehmen mit 45.000 Mitarbeitern aufgebaut. Ich habe Heerscharen von Führern ausgebildet, und zwar mit Karotte und Stock!" Überhaupt sei sein EU-Vorsitz "nicht nur ein Erfolg" sondern "ein Triumph" gewesen.

Mal peinlich, mal grotesk

Mit dieser Sicht der Dinge saß Berlusconi denn doch ziemlich allein da. Denn dass Italiens selbstverliebter Premier erheblich dazu beigetragen hatte, den vermeintlich "historischen Gipfel" über Europas künftige Verfassung zu vermurksen - das war einer der ganz wenigen Punkte, auf den sich die herbeigereisten Staats- und Regierungschefs aus 25 Ländern am Ende verständigen mochten: Die (natürlich anonymen Urteile) seiner Kollegen schwankten zwischen "schlicht grotesk" und "überaus peinlich".

Nüchterne Gemüter billigten dem Gastgeber nur mildernde Umstände zu. Zum einen sei es "wohl objektiv unmöglich" gewesen, den Kampf der Nationen um Europas künftige Machtordnung binnen zwei Tagen und einer Nacht zu schlichten. Und zum anderen argwöhnte hernach so mancher Gipfelstürmer, hinter den Kulissen habe jemand seine Fäden gesponnen und es "geradezu darauf angelegt, das vereinte Europa in seine erste Krise zu stürzen". Der Name des vermeintlichen Schurken: Jacques Chirac, Präsident der französischen Republik.

Der Macho aus Rom

Doch dieser Verdacht keimte erst später. Erst kam Silvio. Ausgerechnet der Mann, dem es als Vorsitzenden der EU-Tafelrunde beschieden war, im Namen des Kontinents einen Kompromiss zu vermitteln, eröffnete beim Mittagessen die Regierungskonferenz über Europas Verfassung mit der simplen Frage: "Und was machen wir jetzt?" Die Antwort gab er selbst: "Vielleicht sollten wir über etwas Handfestes reden - über Fußball und Frauen".

Der spanischen Außenministerin Ana de Palacio blieb der Mund offen, auch ihre sechs Kolleginnen im Saal sowie die finnische Präsidentin Tarja Halonen gaben sich "nicht amüsiert". Doch Berlusconi, ganz Unterhalter statt Unterhändler, legte noch einen drauf. Vielleicht könne ja "Freund Gerhard", der viermal verheiratete Bundeskanzler, etwas beitragen: "Von Frauen verstehst du doch etwas." Als da die italienische Küche, nach einem erträglichen Spargel-Risotto, gerade ein rätselhaftes Schinkengericht servierte, giftete Schröder zurück: "Silvio, bisher dachte ich ja, Du verstehst wenigstens etwas vom Essen."

Doch der Macho aus Rom trieb die Temperatur im Saal weiter nach unten. Minuten, ehe der bei einem Hubschrauber-Absturz kürzlich schwer verletzte polnische Premier Leszek Miller per Rollstuhl an seinen Platz geschoben wurde, griff Berlusconi erneut in die Klamottenkiste. Neulich sei ihm, als er per Helikopter über eine lästige Demonstration hinweg flog, eine Idee gekommen: "Wenn ich einen 10 000-Euro-Schein runterwerfe, ist wenigstens einer von denen glücklich." Seine Frau habe ihm zu zwei 5000-Euro-Scheinen geraten, "damit machst Du zwei Menschen froh". Schließlich habe sich der Pilot umgedreht und geraten: "Und wenn Sie jetzt herausfallen, sind alle glücklich".

Kein Millimeter Bewegung

So ging es weiter, ohne einem Kompromiss über Europas Verfassung nur einen Millimeter näher zu rücken. Also versuchte es Berlusconi auf die persönliche Art. Bis tief in die Nacht bestellte er seine "lieben Kollegen" reihenweise zu Einzelgesprächen, um auszuloten, wo Gerhard, Jacques oder Leszek weich würden. Doch bei dem, was erfahrene EU-Diplomaten "den Beichtstuhl" nennen, bot Berlusconi so viele verschiedene Formeln feil, dass am Ende niemand mehr wusste, "wo wir eigentlich stehen".

Der von Schmerzmitteln sedierte und in einem Korsett versteifte Pole Leszek Miller verlangte eine "Lösung nach Nizza", also die Wahrung des Privilegs, dass Warschau in Brüssel fast ebenso viele Stimmen hat wie Berlin. Die "doppelte Mehrheit" jedenfalls, die fortan für Brüsseler Beschlüsse nur noch die Zustimmung der Hälfte aller Regierungen verlangt hätte, solange diese Kapitalen zugleich 60 Prozent der Bevölkerung vertreten würden - "das ist keine Option".

José Maria Aznar, der Spanier und zweite Gegner des neuen Machtsystems, gab sich ähnlich schroff. Ein Wechsel zur doppelten Mehrheit, wie es der Verfassungsentwurf vorsehe, sei nur möglich, wenn Madrid wie bisher missliebige EU-Gesetze blockieren könne. Und das verlange eine Schwelle von "mindestens 70 Prozent" der Bevölkerung. Berlusconi musste spätestens in diesem Moment ahnen, das aus seinem "Triumph" als Makler einer EU-Verfassung nichts mehr wird. Aber, immerhin, er versuchte es weiter und rang Aznar die Zusage ab, Spanien werde eine leichte Aufwertung der deutschen Stimmrechte im alten Rahmen von 29 auf 31 Zähler zulassen.

Ein leeres Blatt Papier

Mit dieser Offerte ließ Berlusconi dann Gerhard rufen: "Pass auf, Kanzler". Mit großer Geste bot er Schröder an, dass Berlin mehr Stimmen bekomme - "so 33 oder 34". Doch der lehnte leutselig ab und erteilte dem EU-Vorsitzenden eine Lektion im europäischen Denken. Es gehe seiner Regierung "hier nicht um nationale Vorteile", sondern darum "dass Europa auch nach der Erweiterung führbar bleibt". Geradezu genüsslich verbreiteten anschließend deutsche Diplomaten, der Kanzler habe gleichsam "seine europäische Reifeprüfung" bestanden und zum Wohle der Verfassung "Nein gesagt zu einem Kuhhandel".

Allmählich sprach sich auf den roten Läufern des Brüsseler Ministerrats herum, "dass wir so nicht weiterkommen". Und es war der irische Premier Bertie Ahern, der dies von Berlusconi als einer der Ersten in der Nacht zum Samstag selbst erfuhr. "Silvio", so wollte der Ire wissen, "Du hast doch vor dem Gipfel gesagt, Du hättest eine Zauberformel in der Tasche..." Da griff der Italiener in sein schwarzes Jackett und kramte einen Zettel hervor. Das Blatt Papier war - leer.

Die Deutschen hatten es ja geahnt. "Es sieht düster aus", erzählte schon unmittelbar vor dem Gipfel einer, der wusste, wie am Donnerstag des Kanzlers Begegnung mit dem polnischen Präsidenten Aleksander Kwasniewski in Berlin verlaufen war. Da beschwörte Schröder den europäischen Geist, in dem alle einen Kompromiss finden müssten. Der Pole entgegnet trocken, Schröder solle damit aufhören. "Ihr seid 15 alte EU-Mitglieder, und wir sind zehn neue. Das ist jetzt ein völlig neues Spiel".

Krisensitzung im Separee

Die Wahrnehmung nationaler Interessen in Europa ist Schröder nicht fremd. Aber inzwischen hat er für sich selbst die Einsicht gewonnen, "dass am Ende Europa vorgeht." Heute ist er sogar froh, dass er sich nicht gegen Helmut Kohl und seinen Euro hat durchsetzen können. Nun ist Schröder von den Polen enttäuscht. Er vermisst jede Dankbarkeit für all die Gefallen, die Deutschland dem östlichen Nachbarn geleistet habe. Er persönlich will dafür gesorgt haben, dass Polen auf dem Nizza-Gipfel so viele Stimmen zugesprochen bekam wie Spanien.

Am Samstagmittag schließlich rief Silvio Berlusconi zur Krisensitzung ins Separee. Er, der nie gewagt hatte, allen Partnern auch nur einmal nur einen gemeinsamen Kompromiss zu präsentieren, suchte den Rat der drei Mächtigen: Gerhard Schröder, Jacques Chirac und Tony Blair stimmten zu: "Es hat keinen Zweck mehr." Ein Kanzler-Berater sagte es später so: "Die Spanier wollten nicht, die Polen konnten nicht". Und er fügte hinzu: Nach diesem Gipfel sei es wohl noch in drei Monaten zu früh, einen neuen Versuch zu wagen.

Einer der beiden ausgemachten Sündenböcke, der Spanier, sah das natürlich anders. Warum, so fragte José Maria Aznar am Samstag, setzte sich ausgerechnet Präsident Jacques Chirac so vehement für eine Neuordnung der Brüsseler Machtverhältnisse ein, wo er doch selbst - vor drei Jahren in Nizza - sich so vehement gegen die doppelte Mehrheit gesperrt habe? " Das müssen Sie Frankreich fragen." Und auch von italienischer Seite wurde eifrig die Kunde verbreitet, Chirac habe "viel härter als Schröder" verhandelt. Auffällig war, wie auch Berlusconi selbst zum Ende des Gipfels Spanien und Polen in Schutz nahm. "Beide haben sich für eine Lösung geöffnet, die andere Länder nicht wollten". Wen er meinte, war klar: Deutschland und Frankreich.

Tatsache ist, dass Gerhard Schröder die vielen Pausen gelegen kamen. So telefonierte er ständig mit Berlin, um sich über die Fortschritte über die heimischen Reformen im Vermittlungsausschuss zu informieren. Am Freitagabend war der Kanzler bester Laune, da hatte er mit seinem Freund Jacques und dem belgischen Premier Guy Verhofstadt in einem japanischen Restaurant gespeist. Europas Verfassungskrise war dabei weniger das Thema, Schröder und Chirac drängten vor allem darauf, dass Europa möglichst bald sein Waffenembargo gegenüber China aufheben möge.

Chiracs Plan

Ganz nebenbei erwogen die Drei, ob nun die Zeit gekommen sei, den Kontinent im kleineren Kreis zu mehr Integration zu treiben. Vor allem Chirac favorisiert ein solches "Europa der zwei Geschwindigkeiten". Am liebsten hätte der Franzose bereits am Samstagmorgen eine vorbereitete Erklärung aus der Tasche gezogen, die den Aufbruch in ein solches "Kerneuropa" verkünden wollte. Doch neben den Deutschen warnte vor allem der luxemburgische Ministerpräsident Jean-Claude Juncker, eine solcher Schritt könne die drohende Krise eskalieren lassen und "eine endgültige Spaltung" provozieren.

Juncker, trotz seiner 49 Jahre inzwischen der dienstälteste Gipfelgast Europas, hatte zwar schon am Freitag mit zwei Freunden aus dem "neuen Europa" über das Manöver gesprochen. Das war, als Beichtvater Berlusconi seine bilateralen Gespräche führte und derweil die nationalen Delegationen "wie bei einer Völkerwanderung" mal zum einen, mal zum anderen EU-Partner trotteten. Und ganz grundsätzlich hatten der Tscheche Vladimir Spidla sowie der Ungar Peter Medgyessy ihr Ja-Wort gegeben. Auch Portugal und Griechenland, Finnland und Österreich signalisierten ihr Interesse, in einer solchen "Pioniergruppe" (Chirac) mitzumischen. Aber jetzt, da alles auf der Kippe stand, wollte niemand "mit diesem Sprengstoff spielen." Schon gar nicht ohne die Briten.

Chirac gab nach. Er hielt sich sogar an den Treueschwur der Chefs, "vor der Presse jetzt nicht übereinander herzufallen". Eine Krise? Es werde doch weiter verhandelt, "das ist überhaupt nichts Dramatisches".

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