Vor dem Gipfel:Umgang mit Flüchtlingen: Welche Probleme die EU und die Türkei lösen müssen

Syrian refugees wait on a roadside near a beach in the western Turkish coastal town of Dikili, Turkey

Flüchtlinge nahe der Stadt Dikili im Westen der Türkei.

(Foto: REUTERS)

Vor dem Sondergipfel zeigt Ankara guten Willen und hält Tausende Flüchtlinge zurück. Große Vorleistungen will aber keine Seite anbieten. Wer bewegt sich zuerst?

Von Thomas Kirchner und Alexander Mühlauer

Man kann den EU-Sondergipfel am Montag aus guten Gründen für zweitrangig halten. Denn noch wichtiger ist, was kurz vorher passiert, am Sonntagabend, wenn sich Bundeskanzlerin Angela Merkel und der türkische Ministerpräsident Ahmet Davutoğlu zusammensetzen und über die zentralen Punkte der europäisch-türkischen Kooperation in der Flüchtlingskrise reden. Berlin hat hier die Zügel in der Hand.

Was die beiden besprechen, wird schon einiges von dem festlegen, was später alle 28 Staats- und Regierungschefs beschäftigen wird. Auch diese Runde wird natürlich ihr eigenes Gewicht haben. Doch es wiederholt sich die Situation vor dem EU-Gipfel vom 17. Februar, als sich Merkel, Davutoğlu und einige Regierungschefs aus der "Koalition der Willigen" treffen wollten - was allerdings wegen des Terroranschlags in Ankara abgesagt wurde. Der Montagsgipfel ist nun der Ersatztermin, mit dem Unterschied, dass sich die "Willigen", zu denen ja eigentlich auch Österreich zählt, in die Haare geraten sind. Deshalb verlässt sich Merkel zunächst auf sich selbst, um anderntags dann die EU-Partner einzubinden.

Wer würde Flüchtlinge aus der Türkei übernehmen? Und wie viele?

Dass trotz all der aufgeblasenen Erwartungen etwas Konkretes herauskommt, etwa eine feste Vereinbarung zwischen der EU und der Türkei, ist fraglich, auch wenn Ratspräsident Donald Tusk am Freitag sagte, er sehe Anzeichen für einen europäischen Konsens. EU-Diplomaten dämpfen jedoch die Hoffnung.

So oder so stellen sich auch im Kreis der 28 EU-Akteure wichtige Fragen: Wer macht nun ernsthaft mit bei dem Modell mit Ankara, das zur angestrebten "europäischen Lösung" geworden ist? Genauer: Wer würde wie viele Flüchtlinge aus der Türkei direkt übernehmen? Denn dies wäre Teil einer möglichen Vereinbarung mit Ankara: EU-Staaten fliegen Syrer aus türkischen Städten oder Lagern nach einer Überprüfung direkt nach Europa, zunächst ein paar Hundert, dann Tausende pro Jahr - und wenn sich das System eingespielt hat, vielleicht 200 000 oder 250 000 dringend schutzbedürftige Flüchtlinge. Dafür stoppt die Türkei an der Grenze zu Griechenland den Menschenschmuggel über die Ägäis und akzeptiert den Einsatz von Nato-Patrouillen.

Was all jene betrifft, die trotzdem weiter im Schlauchboot übersetzen, eine Zahl, die sicher nicht auf null sinken wird, nimmt die Türkei zumindest die nicht unmittelbar Schutzbedürftigen, sogenannte Wirtschaftsflüchtlinge, von den Griechen zurück. Basis ist das griechisch-türkische Rückübernahmeabkommen von 2002. Es gewinnt nun an Bedeutung: In dieser Woche nahm die Türkei 308 Flüchtlinge zurück, vor allem aus Tunesien, Marokko und Algerien; 500 weitere sollen folgen. 2014 waren es gerade einmal sechs gewesen, 2015 knapp hundert.

Auch an der Grenze scheint die Türkei nun Ernst zu machen: Laut EU-Kommission wurden allein vom 16. bis 29. Februar "mehr als 15 000 irreguläre Migranten" an der Reise Richtung EU gehindert; Grenzschutz und Polizei setzten in diesem Zeitraum 391 Schleuser fest. Zwei Hilfsprojekte, die aus den drei Milliarden Euro finanziert werden, welche die EU der Türkei zahlen will, sind nach Angaben der Kommission angelaufen. Für humanitäre Hilfe und die Versorgung syrischer Schulkinder würden 95 Millionen ausgegeben. Soweit die positiven Signale.

Wer bewegt sich zuerst?

Andererseits sind Merkel und die EU noch lange nicht am Ziel mit der Türkei. Die zentrale Frage bleibt: Wer geht in Vorleistung, wer bewegt sich zuerst? Die EU erwartet eine "beträchtliche" Senkung der Zahl der Flüchtlinge. Anfang Februar kamen weniger an, gegen Ende des Monats wurden es wieder mehr; im Schnitt waren es fast 2000 täglich. Hohe EU-Politiker erwecken den Eindruck, als könnte Ankara die gewünschte Senkung auf Knopfdruck bewirken. Falls das stimmt, wird es jedenfalls erst geschehen, wenn das ganze Paket beschlossen ist.

Dafür müssen sich die Europäer nicht nur zur Direktabnahme eines beträchtlichen Flüchtlingskontingents verpflichten, als Zeichen ihres guten Willens. Sondern die Türkei müsste auch erkennen können, dass sich die EU bei der ersehnten Liberalisierung der Visa-Vergabe für alle Türken bewegt. Hier liegt ein schwerer Stolperstein auf dem Weg. Denn Ankara könnte selbst erkennen, dass es weit davon entfernt ist, alle 72 Bedingungen zu erfüllen, welche die EU aufgestellt hat.

1,26 Millionen

So viele Menschen haben im vergangenen Jahr in der EU erstmals Asyl beantragt, so viele wie nie zuvor. Laut der europäischen Statistikbehörde Eurostat entfielen dabei auf Deutschland 441 800 Asylanträge, die bei Weitem größte Zahl. Ungarn folgte auf Platz zwei, war aber im Verhältnis zu seiner Bevölkerungszahl am stärksten betroffen. Die größte Gruppe von Asylbewerbern waren mit 362 800 Anträgen EU-weit Syrer. Diese, Afghanen und Iraker zusammen stehen für mehr als die Hälfte aller Asylanträge.

Ein großes Problem lässt die EU-Kommission in einem am Freitag veröffentlichten Türkei-Fortschrittsbericht erkennen: Wenn Türken dereinst frei durch die EU reisen sollen, dann muss man dem Land hochsensible Polizei-Datenbanken von Europol oder Eurojust zugänglich machen. So etwas wie Datenschutz gibt es bisher aber nicht in der Türkei. Ein Gesetz ist in Planung, doch im Entwurf bestünden "Inkonsistenzen" mit EU-Standards, bemängelt die Kommission; vor allem was die Unabhängigkeit der Aufsichtsbehörde betreffe sowie die Rolle von Polizei und Geheimdiensten.

Griechenland könnte zum neuen Calais werden

Es wird also auch nach dem 7. März verhandelt werden müssen. Andere, ebenso wichtige Sorgen der EU sind die Lage in Griechenland und die Zukunft des europäischen Asylsystems. Darum wird es beim zweiten Teil des Gipfels gehen, ohne die Türken. Griechenland soll Hilfe erhalten, darüber sind sich alle einig. Offen ist nur, wie lange das Land den durch die Grenzschließungen auf dem Balkan entstandenen Flüchtlingsstau aushält. Griechenland könne zum neuen Calais der EU werden, schreibt das französische Blatt La Tribune.

Für die Regeln der Zukunft sucht Deutschland darüber hinaus neue Verbündete. In einem Brief von Bundesinnenminister Thomas de Maizière und seinem italienischen Kollegen Angelino Alfano, der der Süddeutschen Zeitung vorliegt, wird deutlich, wie eine künftige gemeinsame Asyl- und Flüchtlingspolitik der EU aussehen könnte. In ihrem Schreiben an die Kommission skizzieren die beiden die wichtigsten Punkte auf dem Weg zu einer Asylagentur der EU und fordern eine "ambitionierte Reform der Dublin-Regulierung", die bisher festlegt, wer für Flüchtlinge zuständig ist. Ein gemeinsames System soll dies ersetzen. Erster Schritt: Sicherung der EU-Außengrenzen, um die Zahl der Flüchtlinge nachhaltig zu reduzieren. Mithilfe von Frontex soll ein EU-weiter Registrierungsmechanismus geschaffen werden - samt Sicherheitschecks von allen Migranten und Asylsuchenden.

Umsiedeln statt umverteilen

Das derzeitige System der Hotspots müsse in einen EU-weiten Ankunfts- und Registrierungsmechanismus integriert werden, um zu verhindern, dass Menschen in mehreren Ländern Asylanträge stellen. Ziel sei ein echtes europäisches Asylsystem. Außerdem brauche es einen koordinierten europäischen Mechanismus, um illegale Wirtschaftsmigranten in ihr Herkunftsland zurückzuführen. Dafür benötige man ein System zur Überwachung von Flüchtlingsströmen. Hinzu komme der Austausch mit Drittstaaten: "Die Kooperation mit afrikanischen Ländern muss intensiviert werden", schreiben die beiden.

Am Ende des Papiers steht der wohl wichtigste Punkt: "Resettlement". Von "Relocation", also der Umverteilung innerhalb der EU, etwa aus Griechenland, ist bemerkenswerterweise nicht mehr die Rede. Gerade die Italiener wissen, dass dieses System nicht funktioniert. Seit Jahren haben sie versucht, bei den anderen EU-Staaten dafür Gehör zu finden. Keinen interessierte es. Deshalb schlagen die Minister aus Berlin und Rom einen neuen Ansatz vor: Schutzbedürftige Menschen könnten bereits in ihren Herkunftsländern identifiziert werden. So müssten sie den gefährlichen Weg Richtung Europa gar nicht erst auf sich nehmen. Ziel sei ein "institutionalisiertes Umsiedlungssystem der EU". Mit festen jährlichen Quoten sollen die Flüchtlinge auf alle Mitgliedstaaten verteilt werden.

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