EU-Erweiterung:Verheugen: Viele Polen haben wieder Angst vor den Deutschen

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Erweiterungskommissar Günter Verheugen warnt das neue Europa vor Kompromisslosigkeit, Instabilität und unberechenbaren Regierungen. Mit dem SPD-Politiker sprachen Daniel Brössler und Stefan Ulrich.

SZ: Europa wächst, aber es wächst nicht zusammen. Im Dezember ist die EU daran gescheitert, sich eine Verfassung zu geben. Sie werden kritisiert, die Erweiterung zu hastig betrieben zu haben. Was würden sie heute anders machen?

Günter Verheugen sieht die EU-Erweiterung nicht nur positiv (Foto: Foto: AP)

Verheugen: Nichts. Die Kritik geht fehl. Wir waren eher zu langsam. Aber wir haben dazugelernt. In Zukunft sollte man die Beitrittsverhandlungen nutzen, um das Gemeinschaftsrecht zu entrümpeln. Zweitens wäre es eine gute Gelegenheit, die Verfahren in der EU einfacher zu machen. Dass wir noch politische Ergebnisse produzieren, ist ein kleines Wunder. Drittens sollte der politische Dialog mit den Beitrittskandidaten intensiver geführt werden.

SZ: Der einstige EU-Kommissionspräsident Jacques Delors sagt heute, kein Kandidat sei wirklich vorbereitet.

Verheugen: Da irrt der treffliche Delors. Was die Übernahme des Gemeinschaftsrechts angeht, werden die Neuen besser sein als die Alten, weil das Gemeinschaftsrecht bei ihnen am 1.Mai zu 100 Prozent gilt. Gegen die bisherigen Mitglieder laufen dagegen mehr als 2000 Vertragsverletzungsverfahren.

SZ: Papier ist geduldig. Die formale Geltung des EU-Rechts garantiert nicht, dass es auch angewendet wird.

Unvermeidliche Schwierigkeiten

Verheugen: Es wird Schwierigkeiten geben, das ist unvermeidlich, aber ich kann Ihnen garantieren: Diese Erweiterung ist sorgfältiger vorbereitet worden als je zuvor. Aber das alles ist in Wahrheit gar nicht das Problem. Delors' Problem ist die alte französische Sorge, dass eine Vertiefung der Union mit 25 Staaten nicht mehr möglich ist. In Frankreich hält sich zudem die Befürchtung, dass sich das politische Zentrum Europas nach Osten verlagert.

SZ: Ein Wirtschaftsprofessor hat die Ostdeutschen mit der Feststellung erschreckt, ihre Löhne müssten sich den polnischen annähern.Wie viele Erweiterungsverlierer gibt es in Deutschland?

Verheugen: Es ist ein absurder Gedanke. Es gibt überhaupt keine Erweiterungsverlierer. Was es gibt, sind Verlierer der Grenzöffnung seit 1989. Die Tankstelle, der Bäcker oder der Friseur an der deutsch-tschechischen Grenze - ja, dort gab es Verlierer. Aber das hat überhaupt nichts mit der Erweiterung zu tun. Sie sind deshalb Verlierer, weil eine Grenze geöffnet wurde und zwei Wirtschaftsgebiete mit völlig unterschiedlichem Preisniveau für die Menschen offen standen. Die Erweiterung schafft diese Probleme nicht. Sie ist die einzige Chance, sie langfristig zu lösen, weil sie dieses Gefälle ausgleichen wird.

SZ: Wäre die Erweiterung reibungsloser gelaufen, wenn statt zehn Staaten auf einen Streich zunächst eine kleinere Gruppe aufgenommen worden wäre?

Verheugen: Nein. An dem Konzept der großen Erweiterung halte ich fest. Alle Leute, die für kleinere Gruppen plädierten, waren in Wahrheit für einen Beginn der Erweiterung ohne Polen. Dies wäre aus historischen und moralischen Gründen überhaupt nicht möglich gewesen. Es hat aber keinen Rabatt für Polen gegeben.

SZ: Der "big bang" galt also Polen?

Zeitfenster nutzen

Verheugen:In erster Linie war es eine praktische Frage. Zwölf Beitritte über Jahre gestreckt - wäre das wirklich besser? Also gab es keine Alternative zu einer großen Erweiterungsrunde, die natürlich auch Polen anschließt. Übrigens mussten wir das Zeitfenster nutzen. Ich hatte das Bauchgefühl, dass es nur ein Zeitfenster gibt. Und ich sage Ihnen heute, Anfang 2004: Wenn wir die Erweiterung nicht im Dezember2002 in trockene Tücher gekriegt hätten, wäre sie gescheitert - wegen des Irak-Konflikts, wegen des Geldes und wegen der Verfassung.

SZ: Geglückt ist nur die Erweiterung, nicht die Vertiefung der Union.

Verheugen: Abwarten. Eines will ich gerne zugeben: In der vergrößerten Union wird eine strukturelle Schwäche der EU schonungslos enthüllt. Wenn noch die Türkei beitritt, hat Europa einen geostrategischen Anspruch, der über den eigenen Kontinent hinausreicht. Wie das gehen soll, ohne gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, möchte ich gerne wissen.

SZ: Und wie kann sich die große EU noch auf eine Verfassung einigen?

Fehler im Vertrag

Verheugen: Die Verfassung hakt an einem einzigen Punkt mit einem einzigen neuen Land, Polen. Es geht dabei nicht um polnischen Eigensinn. Dahinter steckt ein Fehler, der im Vertrag von Nizza gemacht worden ist. Dort ist ein System der Machtverteilung innerhalb des Rates geschaffen worden, das eine Gruppe von sechs mehr oder weniger gleichberechtigten großen Mitgliedern bildete. Dazu gehört Polen. Und die Polen haben das Gefühl, dass sie ausgerechnet jetzt, wo sie beitreten, wieder aus dieser Gruppe ausgeschlossen werden sollen.

SZ: Unter der Parole Nizza oder der Tod haben die Polen in der Verfassungsdiskussion die EU nicht als Partner sondern als Feind betrachtet. Wieso?

Verheugen:Ich habe dem Autor dieser Parole - dem Chef der rechten Oppositionspartei Bürgerplattform, Jan Rokita - gesagt: Denken Sie an die Geschichte Ihres Landes. Sie sollte uns lehren, dass wir in Europa nicht für ein Stück Papier sterben, sondern Kompromisse schließen müssen. Wichtig ist, dass wir Polen nicht an den Pranger stellen, sondern Verständnis aufbringen. Wir müssen neuen Mitgliedern Zeit einräumen, ihre Rolle zu finden. Im übrigen ist die Parole rein innenpolitisch. Sie attackiert die polnische Regierung, nicht die EU.

SZ: In Deutschland herrscht eine Stimmung, die Polen hätten uns dankbar und kompromissbereit zu sein. Zu Recht?

Unangebrachtes Argument

Verheugen: Die ökonomische Bilanz der Erweiterung fällt zu Gunsten Deutschlands aus. Das Argument, die Polen kriegen unser Geld und müssen gefälligst dankbar sein, ist absolut unangebracht. Viel schlimmer ist, dass viele Polen wieder Angst vor den Deutschen haben. Die Vorsitzende des "Bundes der Vertriebenen", Frau Steinbach, und ihre Hilfstruppen richten unermesslichen Schaden an.

SZ: Sie haben selbst den Anpassungsbedarf der polnischen Gesellschaft angesprochen. Ist die EU darauf vorbereitet, dass in Mitgliedsländern unberechenbare Regierungen an die Macht kommen?

Verheugen: Man muss in einer Union, die immer größer wird, damit rechnen, dass immer ein Partner dabei ist, der gerade nicht in der gewünschten Weise berechenbar ist oder bei dem es gerade zugeht wie bei Hempels unterm Sofa. Das ist einfach ein Stück Lebenserfahrung. Deshalb brauchen wir Entscheidungsmechanismen in der EU, mit denen wir das unter Kontrolle halten können. Das ist der Grund, warum die Kommission so leidenschaftlich gegen Veto-Rechte im Ministerrat kämpft.

SZ: WastunmitUnberechenbaren?

Mio Dio!

Verheugen: Wenn sich ein Land außerhalb des Werterahmens der EU bewegt, haben wir im Vertrag Möglichkeiten, die Mitgliedsrechte zu suspendieren. Das muss sich nicht etwa nur auf neue Mitglieder beziehen. Derzeit könnte man sagen, dass ein Abweichen von den Werten der EU eher unter Alt-Mitgliedern zu finden ist. Ich könnte da eins nennen.

SZ: Ist es stiefelförmig?

Verheugen: Mio dio, Sie können fragen.

SZ: Wie sieht Ihre Vision von der Endgestalt Europas aus?

Verheugen: Diese Endgestalt wäre für mich eine Union, die alle europäischen Völker umfasst, die den Willen und die Fähigkeit haben, dazuzugehören. Diese Europäische Union müsste sich als zivile Weltmacht verstehen, die nicht nur für Stabilität auf dem einen Kontinent sorgt, sondern auch für eine friedliche und stabile Entwicklung im globalen Maßstab eintritt.

SZ: Und zu dieser Vision gehört eine Mitgliedschaft der Türkei?

Der Türkei eine Chance geben

Verheugen: Eine Entscheidung steht nicht unmittelbar bevor. Ich rate den Deutschen aber, der Türkei die Chance zu geben, im Zuge der Verhandlungen ihre Reformen abzuschließen. Wer sagt, die Türkei darf nicht Mitglied werden, der müsste ja sagen: Sie darf nicht Mitglied werden, weil sie eine muslimische Bevölkerung hat, weil sie weit weg ist, weil sie zu einem anderen Kulturkreis gehört. Das sind aber Einwände, die zurücktreten müssen angesichts der strategischen Bedeutung der Türkei für Europa.

SZ: Worin besteht für Sie denn diese Bedeutung?

Verheugen: Es ist im Interesse der Europäer, ein einflussreiches Land mit muslimischer Bevölkerung in der Union zu haben, das den Beweis dafür erbringt, dass Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte und westliche Werte mit dem Islam zusammengehen können.

SZ: Die Erweiterung der EU wird als Wiedervereinigung des Kontinents bezeichnet. Ist das nicht ein wenig pathetisch?

Historischer Prozess

Verheugen: Wiedervereinigung? Das nicht. Es hat ein Europa in dieser politischen Gestalt noch nie gegeben. Aber ich glaube, dass man diesen Prozess historisch sehen muss in einer Linie mit den großen Friedensschlüssen in Europa.

Jeder für sich hat dem Kontinent eine neue Gestalt gegeben, angefangen vom Westfälischen Frieden über den Wiener Kongress bis Versailles, Potsdam und Jalta. Die Neuordnungen im 20.Jahrhundert trugen aber den Keim des Verderbens bereits in sich.

Der europäische Nationalstaat hat bewiesen, dass er nicht die Kraft hat, langfristig Frieden und Stabilität zu sichern. Deshalb hat Europa als einzige Region auf der Welt ein völlig neues Modell des Zusammenlebens der Staaten entwickelt, das sich als Erfolgsmodell herausgestellt hat. An diesem Modell sollten wir festhalten.

© SZ vom 11.2.2004 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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