Flüchtlingspolitik:Die Angst der europäischen Nachbarn

Extraordinary EU Summit on migration and refugees crisis

EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker gesteht, dass er sich "große Sorgen" wegen der Taten in Köln mache. (Archivbild)

(Foto: dpa)

Die Übergriffe von Köln haben Schockwellen durch ganz Europa geschickt. Sie verstärken die Zweifel und helfen den Rechten.

Von Thomas Kirchner

Was in Köln und anderen Städten in der Silvesternacht passiert ist, verändert nicht nur Deutschland. Es sendet auch Wellen der Erschütterung durch ganz Europa. Die EU-Nachbarn, die sich einer gemeinsamen Flüchtlingspolitik verschrieben haben, verfolgen die Ereignisse sehr genau.

Beispiel Niederlande: Dort haben alle Zeitungen auffallend detailliert berichtet und lebhaft kommentiert. In Deutschland stehe nun schockartig alles zur Diskussion, urteilt das liberale NRC Handelsblad: nicht nur die Flüchtlingspolitik, sondern auch der Rechtsstaat, die Behörden, die Medien, das Selbstbild. Nach einer Phase relativer Ruhe sei auf einmal Angst zu spüren.

Die große Aufmerksamkeit spiegelt die verbreitete Sorge im Nachbarland, die Sache mit den Flüchtlingen könnte außer Kontrolle geraten. Kanzlerin Angela Merkels Diktum "Wir schaffen das" war vielen Niederländern schon bisher nicht geheuer. Die Vorfälle in Köln interpretieren sie insofern als schlechte Vorzeichen an der Wand.

Der niederländische EU-Gegner Geert Wilders twittert höhnisch: "Danke Angela"

Manchen sind diese Vorzeichen höchst willkommen. Begeistert schlachtet der Rechtspopulist und EU-Gegner Geert Wilders die Übergriffe aus, mit immer neuen höhnischen Tweets, in denen er Bundeskanzlerin Merkel ein "Danke Angela" entgegenschleudert, einen "Sex-Dschihad" am Werke sieht oder vom niederländischen Regierungschef Mark Rutte eine energische Stellungnahme fordert.

Auf Politiker wie Wilders spielt EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker an, wenn er nun davor warnt, "dem Ruf nach einfachen Lösungen nachzugeben". Wer Populisten folge, "endet selbst als Populist", sagte er dem NRC Handelsblad. In einer Demokratie dürfe man den Wählern nicht hinterrennen, sondern müsse sich gegebenenfalls querstellen. Aber auch Juncker gesteht, dass er sich "große Sorgen" wegen der Taten in Köln mache. Für ein gut organisiertes Land wie Deutschland sei das doch "sehr überraschend".

Das schlimmste Szenario wäre für Brüssel, dass Deutschland seine Grenzen dichtmacht. Dann bräche das komplexe Gebäude der Flüchtlingskrisenpolitik sofort zusammen. Junckers Behörde versucht deshalb, die Aufregung zu dämpfen. Der Fall sei ja noch nicht einmal aufgeklärt, heißt es in der EU-Kommission, deshalb sollten daraus zu diesem Zeitpunkt noch keine Schlüsse auf europäischer Ebene gezogen werden. Die Kommission werde "weiterhin Elemente zur Bekämpfung der Flüchtlingskrise vorlegen". Im März stünden ein Paket zur legalen Migration an sowie Vorschläge zur Reform des Dublin-Systems.

Also weiter wie bisher, nach Plan und unverdrossen? In Wahrheit weiß wohl auch die EU-Kommission keinen guten Rat. Ihre Hilflosigkeit äußert sich in ihrer Kommunikation. Wie ein Mantra murmeln Kommissare und Sprecher seit Wochen die ewig gleichen Sätze: Wir haben doch gute Ideen vorgelegt, unser System würde funktionieren. Wenn nur alle Mitgliedstaaten endlich mitzögen. In Junckers Worten: "Europa ist nicht das Problem, es sind einige Mitgliedstaaten, die das Spiel der Solidarität nicht mitspielen."

Aufnahmequoten lassen sich nicht erzwingen

Dazu werden mit einer gewissen Sturheit wöchentlich Statistiken zum Stand der Dinge präsentiert. Die Zahlen sollen die Zögernden an ihre Verantwortung erinnern und ihnen Beine machen. Sie dokumentieren unfreiwillig aber auch, wie unerreichbar die Ziele der europäischen Krisenpolitik sind. Wenn nach mehreren Monaten erst "272 von 160 000" Flüchtlingen aus Italien und Griechenland umverteilt worden sind, drängt sich die Frage auf, ob diese Prozedur überhaupt je Geschwindigkeit aufnehmen kann.

Die Vorstellung, dass eines nahen Tages alle Flüchtlinge, die von der Türkei oder von anderswo in die Europäische Union kommen, brav in wohlorganisierte Aufnahmezentren gehen, sich dort registrieren und schließlich quer durch Europa in ein Land fliegen lassen, in das sie vielleicht gar nicht wollen - diese Vorstellung erscheint als unrealistischer denn je.

Über verbindliche nationale Aufnahmequoten, die vor allem osteuropäische Staaten ablehnen, wird zwar auf Wunsch Berlins hin weiterhin geredet, sie lassen sich politisch aber nicht erzwingen. Vorerst bleibt es wie gehabt bei der Flüchtlingsroute durch den Balkan mit Ziel Deutschland oder Nordeuropa.

"Dann haben wir eine Krise"

Die Termine werden immer wieder nach vorne geschoben. Ursprünglich sollte das sogenannte Hotspot-System mit Verteilungszentren an den südlichen EU-Außengrenzen bis Ende November stehen. Dann hieß es "bis zum Jahresende", inzwischen werden in dieser Hinsicht gar keine Fristen mehr genannt. Dafür heißt es in der Kommission nun, "bis zum Sommer" müsse die Zahl der Ankommenden spürbar gesenkt werden. Und wenn das nicht klappt? "Dann haben wir eine Krise."

Dass die Kooperation mit der Türkei Früchte trägt, ist ebenfalls fraglich. Jüngsten Äußerungen von Kommissionsvizepräsident Frans Timmermans ist Skepsis zu entnehmen, er verhandelt an diesem Montag erneut in Ankara. Laut Spiegel glaubt das Bundesinnenministerium, dass die Türkei höchstens 200 000 Migranten zurückhalten und selbst unterbringen kann. Insgesamt werde aber im laufenden Jahr erneut mit einer Million Flüchtlingen gerechnet. Die Flüchtlingskrise bleibt Europa erhalten. Und es könnte schlimmer werden.

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