Ethnische Gruppen auf der Krim:Unter Brüdern

Auf der Krim leben Tataren, Ukrainer und Russen zusammen. Das ist lange ganz gut gegangen. Doch nun erinnern sich alle an ihre Geschichte und das wirft erneut die Frage auf: Wer gegen wen, wer mit wem?

Von Tim Neshitov

Wenn die Menschen auf der Insel Krim einander besuchen wollen, steigen sie in Cadillacs und rauschen über saubere Serpentinenstraßen, an Swimmingpools vorbei, zu den Nachbarvillen. Ihre Kurorte und ihre Austern sind die besten in Europa; ihre Berufsarmee ist so stark, dass Moskaus Generäle Invasionspläne in den untersten Schubladen verstecken. Und: Die Russen auf der Insel leben in beinahe schweizerischer Harmonie mit den Krimtataren.

Das ist kein Quatsch, sondern eine Utopie. So stellte sich der russische Schriftsteller Wasilij Aksjonow einst vor, was auf der Krim alles hätte passieren können, wenn Lenins Rote Armee 1920 die Weißen von der Krim nicht verjagt hätte, der letzten antibolschewistischen Bastion im Bürgerkrieg. Weiße Offiziere, noch vor Kurzem das Rückgrat der Zarenarmee, viele Französisch parlierend und Pfeife rauchend, flohen über Istanbul nach Westeuropa. In Paris und Berlin warteten auf sie Karrieren als Taxifahrer und Ober.

"Die Insel Krim": So heißt Aksjonows Buch, das 1981 erschien. Natürlich ist die Krim keine Insel, sondern eine Halbinsel. Aber eine Insel taugt eben besser, um über ein zweites, kleines, alternatives Russland nachzudenken. Das große Hauptrussland, das sowjetische, mochte Aksjonow nicht. Er wurde in Moskau aus dem Schriftstellerverband ausgeschlossen und durfte in die USA ausreisen, sein Roman erschien in New York. Der neue Ministerpräsident der Krim-Autonomie, der nun Hilfe aus Moskau erwartet und auf den geschassten Janukowitsch hört, heißt mit Nachnahmen auch Aksjonow. Aber das ist nur Zufall.

Einer muss gehen

"Ein amoralisch reiches Land", wie in dieser Utopie beschrieben, war die Krim nie. Das Einzige, was an der Fabel bis jetzt stimmte, war die Harmonie zwischen den Krimtataren (etwa 12 Prozent der Bevölkerung), und den Russen, etwa 60 Prozent. Nun bröckelt auch sie. "Fahrt heim nach Russland!", schreien einige Tataren auf den Straßen der Hauptstadt Simferopol. "Allahu Akbar!" Sie meinen damit, dass 1,5 Millionen Menschen, darunter viele, deren Vorfahren Ende des 18. Jahrhunderts auf die Krim übersiedelten, weil Zarin Katharina die Große die Halbinsel von den Osmanen erobert hatte, nun in russische Dörfer zurück sollen.

"Jesus ist auferstanden!", schreien einige Russen zurück, und meinen damit, dass die 245 000 Moslems, deren Vorfahren auf der Krim seit der Neuzeit lebten, sich entweder eine andere Heimat suchen mögen oder eine andere Religion. Dass Jesus und Mohammed hier nur als rhetorische Knallfrösche herumgereicht werden, zeigt schon der Umstand, dass sich zu den Tataren muskulöse Mitglieder des christlichen, ukrainisch-patriotischen Rechten Sektors gesellen. Sie sind mit der Bahn aus Kiew angereist, in "Freundschaftszügen". Ethnische Ukrainer machen etwa ein Viertel der Bevölkerung auf der Krim aus.

Zwischen den Stühlen

Die Tataren haben jeden Grund, sich Kiew näher zu fühlen als Moskau. Allein schon aus biografischen Gründen. Refat Tschubarow etwa, der Anführer der Krimtataren, wurde 1957 geboren, aber nicht auf der Krim, sondern in Samarkand, einer Provinzstadt in Usbekistan, 3000 Kilometer weiter östlich. Tschubarows Eltern waren im Mai 1944 in einem Viehwaggon deportiert worden - wie weitere 183 155 Krimtataren auch, wie der penible sowjetische Geheimdienst nach getaner Arbeit Stalin telegrafierte.

Stalin hielt alle Krimtataren, ähnlich wie die Russlanddeutschen, für Vaterlandsverräter, weil einige von ihnen während der deutsch-rumänischen Besatzung der Krim zwischen 1941 und 1944 an der Seite der Wehrmacht und der Waffen-SS sowjetische Partisanen gejagt hatten.

In den Deportationszügen nach Zentralasien gab es kaum etwas zu essen und keine Medikamente. "Morgens, anstatt einer Begrüßung hörten wir erlesene Schimpftiraden und die Frage: Gibt's Leichen?", erinnerte sich eine Familie. "Die Menschen klammerten sich an die Toten, weinten, gaben sie nicht weg. Die Soldaten schmissen die Körper raus, die Erwachsenen zur Tür, die Kinder zum Fenster."

Einsamer Seitenwechsel

Zu Gorbatschows Zeiten durften die Krimtataren auf die Halbinsel zurückkehren, aber in Moskau hat sich niemand bei ihnen je entschuldigt. Trotzdem sind die Tataren bis jetzt friedlich mit ihren russischen Nachbarn ausgekommen. Als politische Kraft treten sie nun erstmals international sichtbar in Erscheinung. Dass sie das an der Seite Kiews tun, wird Stalin-Fans in Moskau neue Munition liefern.

Hatten sich die Krimtataren nicht bereits mit dem schwedischen König Karl XII. gegen Moskau verschworen, Anfang des 18. Jahrhunderts? Ja, hatten sie. Davor hatten sie sich aber mit Moskau gegen Kiew verschworen. Und 1571 waren die Tataren sogar so stark, dass 40 000 ihrer Reiter in Moskau einfielen und die Stadt niederbrannten.

Wer gegen wen, wer mit wem: Die Geschichte der Krim unterscheidet sich in ihrer blutigen Flatterhaftigkeit kaum von der Geschichte Westeuropas. Was fehlt, sind allerdings Wunden, die als gemeinsam empfunden werden, jeder leckt bis heute die eigenen. Die tiefste Wunde in der russischen Volkspsyche wurde 1954 geschlagen. Nikita Chruschtschow schenkte die Krim der Ukrainischen Sowjetrepublik - als Erinnerung daran, dass Russen und Ukrainer ein Brudervolk seien, ein sozialistisches. 300 Jahre davor hatten die Ukrainer ihren Eid auf den Zaren in Moskau geschworen, damals noch als ein christliches Brudervolk. Die Tataren hätten vermutlich gerne einfach eine eigene Insel.

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