Erstwählerprojekt vor der Bundestagswahl:Aufbrausende Politiker, eingeschüchterte Schüler

Die Lücke zwischen Parteien und Jungwählern ist groß - ambitionierte Projekte wie "Wahlgang" versuchen, sie etwas kleiner zu machen. Blöd nur, wenn sich die Politiker während einer Podiumsdiskussion völlig daneben benehmen - und die Schüler sie darauf hinweisen müssen. Besuch in einer Berliner Schule.

Von Antonie Rietzschel, Berlin

Sebastian reicht es. Er pustet seine blonden Haare aus dem Gesicht, blickt in die Runde. Dann sagt der 18-Jährige ruhig: "Bitte lassen Sie sich gegenseitig ausreden, es geht hier nicht darum sich gegenseitig an die Gurgel zu gehen." Sein linkes Bein wackelt dabei ein bisschen vor Nervosität. Das hier ist ja keine Schulversammlung. Sebastian moderiert eine Podiumsdiskussion mit Vertretern von FDP, Linke, SPD, CDU und Grünen.

Doch von Diskussion kann über weite Strecken keine Rede sein. Die Politiker streiten und zanken, als wären sie bei Günther Jauch und nicht in einer schlecht beleuchteten Mensa einer Schule. Gegen Ende sagt Sebastian, dass ihn niemand überzeugt habe - ähnlich dürften viele der 200 Gymnasiasten und Berufsschüler urteilen, die vor der Bühne sitzen.

Viele von ihnen dürfen am Sonntag genauso wie Sebastian zum ersten Mal in ihrem Leben wählen. Sie zählen damit zu einer Wählergruppe, die immer wieder voller Sorge beäugt wird. Bei der Bundestagswahl 2009, so vermeldete es damals das Statistische Bundesamt, machten lediglich 59 Prozent der wahlberechtigten Jung-und Erstwähler überhaupt ihr Kreuz - neuer historischer Tiefstand.

64 Schulen bundesweit

Diesen Sonntag sind 61,8 Millionen Menschen aufgerufen zur ihre Stimme abzugeben, der Anteil der 18- bis 21-Jährigen beträgt gerade mal 3,6 Prozent. Julie Rothe, Geschäftsführerin der ehrenamtlichen Studenten-Organisation Politikfabrik, sieht in diesem geringen Anteil das zentrale Problem: "Die Parteien bemühen sich nicht um diese Wählerschicht, weil sie aufgrund des demographischen Wandels eine Minderheit ist", sagt sie. So sei es beim TV-Duell kaum um junge Themen wie Bildung gegangen, sondern vor allem um Rente oder Steuern. Das seien Fragen, die Jugendliche in ihrer aktuellen Lebensphase noch nicht interessierten.

An Versuchen, diese Lücke zwischen Politikbetrieb und Jugend zumindest ein wenig kleiner zu machen, mangelt es vor dieser Bundestagswahl nicht. Die Robert-Bosch-Stiftung versucht es mit dem Online-Projekt "Du hast die Macht", mit Wahlprogramm-Check inklusive Live-Doku-Quiz. ARD und Pro Sieben haben in verschiedenen Sendungen versucht, Jungwähler und Politiker zusammenzubringen - mit mäßigem Erfolg.

Antonie Rietzschel

Das Podium - links sitzt die Opposition, rechts die Koalition. In der Mitte die Moderatoren Merlin und Sebastian.

(Foto: Antonie Rietzschel)

Eines der ältesten Projekte stammt jedoch von der genannten Politikfabrik. Bereits 2002 startete sie 'Wahlgang'. In Podiumsdiskussionen können die Schüler Politiker direkt befragen - zu Themen, die sie interessieren. Zwei von der Schule ausgewählte Schüler werden während eines zweitägigen Workshop zu Moderatoren ausgebildet. Vor der Bundestagswahl ist das Projekt Wahlgang in 64 Schulen bundesweit zu Gast. An diesem Morgen in der Louise-Schroeder-Schule im Berliner Stadtteil Zehlendorf.

Am Anfang läuft noch alles glatt. Die Krawatte von Sebastians 20-jährigem Ko-Moderator Merlin - ein Geschenk seines Onkels - scheint zu wirken. Sie ist sein Glücksbringer: Der Saal füllt sich trotz Klausurenzeit bis auf den letzten Platz und auch die Politiker - allesamt Direktkandidaten in verschiedenen Berliner Wahlkreisen - sind pünktlich. Doch deren unterschiedliche Haltung zu dieser Veranstaltung zeigt sich bereits kurz vor Beginn. Martin Lindner, immerhin FDP-Vizefraktionschef im Bundestag, Berliner Landesvorsitzender und Mitglied im Bundesvorstand der Liberalen, zieht mit einem kurzen Händeschütteln an den Moderatoren vorbei. Kaum sitzt er, ist er schon tief versunken in sein Smartphone. Genauso wie sein CDU-Kollege Karl-Georg Wellmann, der ebenfalls Bundestag sitzt.

Ute Finckh-Krämer von der SPD und Nina Stahr von den Grünen plauschen mit den beiden Moderatoren, bevor sie auf die Bühne gehen. Und Klaus Lederer, der als Berliner Landeschef und Direktkandidat der Linken in Mitte für einen Genossen eingesprungen ist, erklärt den Jungs, dass er vor Podiumsdiskussionen immer aufgeregt sei. "Gut zu wissen, dass es Politikern auch so geht", sagt Sebastian. Alle lachen. Die Spannung fällt langsam ab.

Hänseleien wie auf dem Schulhof

Zwei Minuten - mehr haben die Kandidaten am Anfang nicht, um zu begründen, warum die Schüler überhaupt wählen sollen. Niemand schöpft seine Zeit aus. FDP-Mann Lindner lässt die Moralkeule auf die jungen Zuhörer niedersausen und erklärt, dass in anderen Ländern die Menschen durch die Wüste laufen, um ihre Stimme abzugeben. Grünen-Vertreterin Stahr erklärt, dass man damit ein klares Zeichen gegen Parteien wie AfD und NPD setze. Finckh-Krämer bekommt die ersten Lacher mit der kürzesten Begründung: "Es heißt, man könne nichts ändern. Stimmt nicht. Wenn wir alle die anderen Parteien, bis auf die FDP wählen - dann fliegen die aus dem Bundestag. Das ändert doch was an der Politik hier im Land."

Auch die zweite Fragerunde läuft noch einigermaßen harmonisch ab. Es geht um die Frage, warum denn die Wahlbeteiligung bei den Jungen immer weiter sinkt. Doch dann wollen Sebastian und Merlin wissen, warum die Parteien kaum noch unterscheidbar seien.

"Veggie-Day, Veggie-Day, Veggie-Day"

CDU-Kandidat Wellmann und der Liberale Lindner nehmen das als Herausforderung, um zu beweisen, dass die anderen Parteien aus ihrer Sicht von nichts eine Ahnung haben. Gemeinsam fallen sie über die Opposition her. Lindner lässt kaum jemanden zu Wort kommen, und wenn doch, unterbricht er die Sätze. Lederer solle doch bitte nicht so schreien, sagt er zu seinem Kontrahenten von der Linken und hält sich kurz symbolisch die Ohren zu. Als Grünen-Kandidatin Stahr die Forderungen ihrer Partei aufzählt, ruft Lindner immer wieder dazwischen "Veggie-Day, Veggie-Day, Veggie-Day" - als würde er sie auf dem Schulhof hänseln.

Unionsvertreter Wellmann will seinem Noch-Koalitionspartner offenbar in nichts nachstehen. Er schreit Lederer an, der solle sich hier mal nicht als Robin Hood aufführen. Seine Partei sei für den Sozialabbau in Berlin verantwortlich. "Das haben sie gemacht", ruft er und droht mit dem Zeigefinger. Eine kleine Gruppe von Jungs in den vorderen Reihen findet solche Einlagen lustig. Der Rest der Schüler sitzt erschrocken da, einige schütteln die Köpfe. Moderator Sebastian greift ein - und endlich, nach 45 Minuten können die Jugendlichen ihre Fragen stellen.

Gleich zwei wollen wissen, warum Lederer einer "SED-Nachfolgeorganisation" beigetreten sei, zwei Mal kann er das durchaus nachvollziehbar begründen. Ein anderer Schüler will erfahren, wie der Betrieb seines Vaters rentabel bleiben soll, wenn der künftig einen Mindestlohn von zehn Euro bezahlen soll. Es geht um die Legalisierung von Cannabis - aber auch um den Syrieneinsatz.

Die Schüler haben sich gut vorbereitet, tragen Statistiken vor, konfrontieren die Spitzenkandidaten mit Widersprüchen. Eine Schülerin, die Bafög erhält und ihr Leid über die schwierige Suche von günstigen Wohnungen in Berlin klagt, will schlicht wissen, was die Parteien dazu im Programm stehen haben. Artig erklärt jeder seinen Standpunkt. Fast geht es harmonisch zu. Was wohl daran liegt, dass der Oberkrawallmacher Lindner das Podium mittlerweile verlassen hat, um zur Sitzung des Bundesvorstands zu eilen.

Sebastian wählt grün

Und dann kommt der Moment, der CDU-Kandidat Wellman kurz sprachlos macht. Eine Schülerin erhebt sich aus dem Publikum und fragt, warum er und zuvor auch Lindner es eigentlich nicht schaffen, sich mal von ihrem Smartphone und iPad loszureißen. "Die Vertreter der anderen Parteien schaffen es ja auch, sich zu konzentrieren." Respektlos sei das, ruft jemand in den vorderen Reihen zustimmend. Die Fragerin bekommt für ihren Mut viel Applaus. "Das ist ja fast schon ein konservativer Ansatz", verteidigt sich Wellmann. Immerhin legt er sein iPad erst einmal zur Seite.

Nach anderthalb Stunden ist die Veranstaltung zu Ende. Julie Rothe von der Politikfabrik, die im Publikum sitzt, ist nicht sicher, ob sie ein Erfolg war. "Wer sowieso wählen will, wurde heute bestärkt. Doch die Nichtwähler wurden sicherlich nicht überzeugt am Sonntag, doch ihr Kreuz zu machen", sagt sie. Jugendliche würden großen Wert auf eine inhaltliche Auseinandersetzung legen. "Parteien-Hick-Hack schreckt sie ab."

Schüler-Moderator Sebastian war schon vor der Podiumsdiskussion klar, dass er wählen gehen wird. Auch jetzt bleibt er dabei. Grün will er wählen. Die Begründung klingt jedoch alles andere als euphorisch: "Wir müssen ja das Beste daraus machen."

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