Erster Weltkrieg:"Leutnantdienst tun heißt: seinen Leuten vorsterben"

Erwin Rommel und Major Sprösser, 1918

Oberleutnant Erwin Rommel (re.) stürmte mit seiner Kompanie 1917 in der Zwölften Isonzoschlacht einen Berg und wurde dafür mit dem Orden "Pour le Mérite" ausgezeichnet. Im Zweiten Weltkrieg war Rommel williger Heerführer des Hitler-Regimes. Da der Generalfeldmarschall Mitwisser des Attentats vom 20. Juli 1944 war, zwang ihn das Regime zum Suizid.

(Foto: Süddeutsche Zeitung Photo)

Im Frieden galt der preußische Leutnant als junger Gott, im Ersten Weltkrieg war er Kanonenfutter. Keine Gruppe in der deutschen Armee entrichtete einen größeren Blutzoll.

Von Hubert Wetzel

"Und so zogen sie in den Krieg und in den Tod. Voller Zuversicht, mit Blumen am Gewehr. "Sie kamen an unserem Haus vorbei, das nahe am Bahnhof lag: die höheren Offiziere, Regiments- und Bataillonsstab, zu Pferd, die Führer der kleineren Einheiten, junge Leutnants, zu Fuß, zehn Schritte vor ihrer Mannschaft, so wie sie dann im Kampf vorausgegangen und zum großen Teil gefallen sind."

So beschreibt der Dichter Carl Zuckmayer in seinen Erinnerungen den Abmarsch des traditionsreichen Infanterieregiments Nr. 117 aus Mainz an die Front am 1. August 1914.

Die meisten Darstellungen des Ersten Weltkriegs beschäftigen sich mit dem Sterben der einfachen Soldaten in den Schützengräben. Knapp 13 Millionen Männer dienten im deutschen Heer als Mannschaften und Unteroffiziere, fast zwei Millionen von ihnen überlebten den Krieg nicht, etwa jeder sechste Soldat fiel.

Sie krepierten im Trommelfeuer, verbluteten in Granattrichtern, erstickten im Gas, erlagen der Ruhr. Vergessen wird oft, dass - proportional gesehen - die Verluste unter den Offizieren genauso hoch, zum Teil weit höher waren. Und keine Gruppe in der Armee entrichtete einen so großen Blutzoll wie jene jungen Truppenführer, die den niedrigsten Offiziersdienstgraden - Leutnant und Oberleutnant - angehörten.

Ohne Leutnants kein Krieg

Der erste deutsche Leutnant fiel in Frankreich, noch bevor der Krieg dort überhaupt begonnen hatte. Am 2. August 1914, einen Tag vor der deutschen Kriegserklärung, führte der 22-jährige Albert Mayer eine Patrouille südlich von Belfort auf französisches Gebiet. Bei einer Schießerei wurde er getötet. Leutnant Mayer, so ist es in seine Grabplatte auf einem Soldatenfriedhof im Elsass gemeißelt, war der erste deutsche Gefallene des Ersten Weltkriegs.

Seine Kameraden folgten ihm zu Tausenden in den Tod. Die Zahlen, die der Militärhistoriker Christian Stachelbeck zusammengetragen hat, sind dramatisch: Während des Krieges dienten im deutschen Heer 51 000 aktive Offiziere sowie 226 000 Reserveoffiziere.

Von den aktiven Offizieren fielen 12 600, fast 8000 von ihnen Leutnants und Oberleutnants. Das heißt: Jeder vierte Berufsoffizier kam um, fast zwei Drittel der Gefallenen waren im Leutnantsrang. Ähnlich bei den Reserveoffizieren; von ihnen fielen 35 500, und so gut wie alle der Getöteten - 33 900 Mann - waren Leutnants und Oberleutnants.

"Leutnantdienst tun heißt: seinen Leuten vorsterben", schrieb Walter Flex, selbst Leutnant der Reserve und 1917 gefallen, in "Der Wanderer zwischen beiden Welten".

An Gelegenheiten zu sterben, mangelte es nicht. Leutnants lebten zumeist vorne in den Gräben bei ihren Männern. Sie genossen einige Privilegien - besseres Essen, besseren Schnaps, sie hatten einen Burschen, der ihre Stiefel putzte, vielleicht ein Reitpferd. Doch das bequemere Leben minderte nicht die ständige Gefahr.

Leutnants waren Truppenführer im Wortsinn: Sie mussten Soldaten im Gefecht anführen und befehligen - eine lebensgefährliche Sache, bei der Wegducken und Verkriechen kaum möglich waren. Die jungen Offiziere waren für einen Gutteil des täglichen blutigen Handwerks an der Front verantwortlich, für das mörderische Hin und Her von Sturmangriff, Abwehr, Gegenstoß.

Ihre Pflicht war es, dafür zu sorgen, dass die Soldaten kämpften. Ernst Jünger, der wohl berühmteste deutsche Leutnant des Ersten Weltkriegs, hat diese Aufgabe im August 1918, nach dreieinhalb Lehrjahren an der Front, in seinem Kriegstagebuch in diesen einen Satz gefasst: "Nur wo ein Offizier steht, wird man auch Mannschaften im Kampfe finden." Ohne Leutnants kein Krieg.

"Leutnant Lange tot, famoser Kerl, dem Leutnant Weißenborn beide Augen ausgeschossen, Leutnant Düring tot"

Bei Angriffen mussten Leutnants ihre Männer aus den Gräben und nach vorne in den Nahkampf reißen. Zu Tausenden stürmten sie dabei, "zehn Schritte vor ihrer Mannschaft", in den Tod. Leutnants wurden rausgeschickt, um feindliche Stellungen auszukundschaften, oder führten nächtliche Überfälle an.

Wenn ein Hauptmann wissen wollte, was vorne los war, musste ein Leutnant aus der Deckung kriechen. Der Schriftsteller Edlef Köppen, ebenfalls Leutnant im Ersten Weltkrieg, hat das in seinem Roman "Heeresbericht" beschrieben: "Dem Hauptmann wird die Warterei zu dumm: 'Herr Leutnant Reisiger, bitte nehmen Sie sich einen Unteroffizier, gehen Sie nach vorn. Versuchen Sie aufzuklären. Ich wünsche zu wissen, wo ungefähr die erste Linie unserer Infanterie liegt.'" Wo die Infanterie lag, fielen auch die Granaten.

Bei der Artillerie taten Leutnants wie Zuckmayer als "vorgeschobene Beobachter" Dienst. Sie saßen im vordersten Schützengraben und versuchten, in der Schlacht das Feuer ihrer weiter hinten stehenden Geschütze zu lenken. "Es war ein 'Verlustlistenkommando'", schreibt Zuckmayer. Wenn der Feind angriff, wurde der Artilleriebeobachter oft überrannt.

"Ich kenne diese letzten Stunden nach tagelangem Trommelfeuer, wenn man in einem gerade noch aushaltenden Unterstand erschöpft, übernächtigt und ausgehungert hockte, bis dann eine plötzliche Pause in dem Schüttern und Schmettern der Einschläge entstand und die Stimme eines Postens von draußen in das Dunkel hinunterbrüllte: 'Raus! Sie kommen!'." Zuckmayer überlebte, viele blieben tot im Dreck liegen.

Ernst Jünger war ein gewissenhafter Chronist des alltäglichen Sterbens. Sein Tagebuch ist voller toter Leutnants. Einige fielen nur Stunden nach ihrer Beförderung, andere begleiteten ihn zwei, drei Kriegsjahre. Aber irgendwann waren sie alle tot.

Am 29. Juni 1916 zum Beispiel notierte Jünger nach einem Gefecht in der Picardie: "Leutnant Häuser wurde heruntergebracht, gaskrank, Leutnant Lange tot, famoser Kerl, dem Leutnant Weißenborn beide Augen ausgeschossen, Leutnant Düring tot!"

Am 9. Mai 1917: "Heut las ich den Hannoverschen Kurier, in dem die Todesanzeige des Leutnants Lemière stand. Gleich darüber stand die Todesanzeige des Leutnant Kayser. So purzeln die alten Bekannten an allen Ecken und Enden."

31. Oktober 1917: "Leutnant Lemière gefallen, der Bruder des im Frühjahr getöteten Offiziers, Leutnant Meier gefallen; 1. Dezember 1917: Leutnant Tebbe gefallen, Leutnant Hopf gefallen, Leutnant Schulz schwer verwundet. 24. Juli 1918: Leutnant Vorbeck gefallen, Leutnant Kasten und Leutnant Grieshaber schwer verwundet."

Ein glanzvolles Leben im Frieden

Vor dem Krieg war das Leben eines Leutnants glanzvoll. Der Offiziersrang genoss hohes gesellschaftliches Ansehen und war den Söhnen aus dem Adel und gehobenen Offiziers-, Beamten- und Bürgerfamilien vorbehalten.

"Der preußische Leutnant ging als junger Gott, der bürgerliche Reserveleutnant wenigstens als Halbgott durch die Welt", schrieb einmal der Historiker Friedrich Meinecke. Ein Leutnant stand allemal über einem Professor, er verkörperte Eleganz, Ehre, Schneid, Ritterlichkeit.

Joseph Roth hat diese alte Offizierswelt im "Radetzkymarsch" geschildert - eine Welt voll bunter Uniformen, zwischen funkelnden Bällen und Bordellbesuchen, Saufgelagen und Spielschulden, prächtigen Paraden und ödem Exerzieren; wobei es im mondänen Habsburger Reich, wo der Roman spielt, etwas glamouröser zuging als im zackigen Preußen.

Im August 1914 wurde diese Welt zerfetzt. Es ist kein Zufall, dass Roth seine Hauptfigur, den jungen Leutnant Carl Joseph von Trotta, gleich in den ersten Kriegstagen fallen lässt.

Das deutsche Offizierskorps hielt streng Abstand zum einfachen Volk. Leutnants bekamen wenig Sold, um standesgemäß leben zu können, mussten sie reiche Eltern haben. Zudem verlangte die Armee einen höheren Schulabschluss von ihren jungen Offizieren.

Und schließlich stand vor der Beförderung zum Leutnant eine Wahl durch sämtliche Offiziere des Regiments. Sie achteten scharf darauf, dass keine "unwürdigen" Anwärter durchkamen.

Die Front fraß Offiziere und schrie nach mehr

Im Krieg war so viel Standesdünkel hinderlich. Die Front fraß Offiziere und schrie nach mehr. Die Armee musste die Hürden senken; aber sie riss sie nicht völlig nieder. Kleinbürger und Arbeiter waren im Offizierskorps weiterhin unerwünscht, selbst dem tapfersten Unteroffizier blieb deshalb die Beförderung zum Leutnant verwehrt.

Um die vielen gefallenen Offiziere zu ersetzen, wurden stattdessen junge Soldaten, achtzehn, neunzehn Jahre alt, zu "Kriegsleutnants" ernannt. Jünger kam so zu seinem Offizierspatent; ebenso Zuckmayer und Flex, den die Nazis später als Heldenschriftsteller feierten. Die Regeln der Offizierswahl wurden gelockert, Kriegsleutnants mussten die Mittlere Reife haben, vor allem aber mutig und zäh sein.

Ebenso wenig konnte die Armee an alten Hierarchien festhalten. Im Frieden wurde eine Kompanie zumeist von einem Hauptmann geführt, der 15 Jahre gedient hatte.

Im Krieg erhielten Leutnants nach einigen Monaten an der Front das Kommando über eine Kompanie, bei der Infanterie eine Einheit mit 150 bis 250 Mann. Manche dieser Offiziere waren so jung, dass es dem Oberkommando peinlich war: 1915 verbot die Militärzensur in Todesanzeigen für Gefallene den Zusatz "18-jähriger Leutnant als Kompanieführer".

Längst nicht alle Leutnants machten ihre Sache gut. Viele waren zu unerfahren, zu draufgängerisch oder zu überfordert, um eine Kompanie im Kampf zu führen. Sie benahmen sich wie Gutsherren, vergriffen sich im Ton gegenüber ihren Männern oder brachten sie unnötig in Gefahr. An der Front waren diese Herrenreiter verhasst.

Doch wenn Leutnants für die Soldaten unter ihrem Befehl sorgten, wenn sie sich bemühten, so viele von ihnen wie möglich lebend durchzubringen und sie nicht mutwillig opferten, dann wurden sie für ihre Leute im Schlamm der Schlachtfelder oft so etwas wie Anker, an die sich die Männer im Angesicht von Gefahr und Tod klammerten.

Die Sterbenden winselten vor ihrem Offizier

Erich Maria Remarque, der den Weltkrieg als einfacher Soldat erlebte, zollt in "Im Westen nichts Neues" nur einem einzigen Offizier Respekt - einem toten Leutnant: "Bei einem Angriff fällt unser Kompanieführer Bertinck. Er war einer dieser prachtvollen Frontoffiziere, die in jeder brenzligen Situation vorne sind."

Auch Ernst Jünger schildert eine bedrückende Szene, in der das Zutrauen deutlich wird, das die Soldaten zuweilen Vorgesetzten entgegenbrachten, die oft kaum älter waren als ihre Söhne. Bei einem Feuerüberfall schlug eine Granate mitten unter seinen Männern ein.

"Einige stießen noch immer die furchtbaren, markerschütternden Schreie aus", schreibt Jünger, "einige kamen auf mich zugekrochen und winselten 'Herr Leutnant'. Immer wieder diese grenzenlose Zuversicht des Mannes zu dem Offizier, der ihm als tüchtig bekannt ist."

Helfen konnte den Sterbenden freilich nicht einmal ihr Leutnant.

Der Text erschien zuerst in der gedruckten SZ-Beilage zum Zentenarium des Ersten Weltkriegs 2014.

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