Erster Weltkrieg:Allgemeine Kriegsbegeisterung ist eine Mär

Eingezogene Reservisten mit Ausrüstung, 1914 | Conscripted reservists with their equipment, 1914

Begeisterung sieht anders aus: Eingezogene Reservisten zu Kriegsbeginn

(Foto: Sueddeutsche Zeitung Photo)

Intellektuelle preisen die reinigende Wirkung des Kampfes, Studenten ziehen jubelnd durch die Straßen: Zu Beginn des Ersten Weltkriegs gibt es Ausbrüche von Kriegsbegeisterung. Doch die meisten Deutschen reagieren anders auf den heraufziehenden Konflikt. Kriegseuphorie kann sich nicht jeder leisten.

Von Barbara Galaktionow

Der Mediziner und Sozialdemokrat Alfred Grotjahn hielt seinen Spott nicht zurück: "Man wird sich ein Verzeichnis bisher geschätzter Personen anlegen müssen, die durch den Krieg eine akute Geistesverwirrung erlitten haben", notierte er wenige Monate nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Hätte er wirklich eine solche Liste angelegt, Grothjahn hätte gut zu tun gehabt.

Denn die Zahl der Intellektuellen, die 1914 in Deutschland in einen nationalistischen Kriegstaumel gerieten, war groß: Sie reichte von Schriftsteller Thomas Mann ("Krieg! Es war Reinigung, Befreiung, was wir empfanden") über Theaterkritiker Alfred Kerr (der im Angesicht der Feinde schrieb: "Hunde dringen in das Haus - Peitscht sie raus!") bis zum Jenaer Philosophieprofessor Ernst Haeckel (der ausgerechnet dem lange um Frieden bemühten Großbritannien "brutalen nationalen Egoismus" vorwarf).

Auch die meisten Zeitungen verfielen mit Kriegsausbruch in einen martialischen Duktus - sogar solche, die zuvor noch auf den Erhalt des Friedens gehofft hatten (so auch die Münchner Neuesten Nachrichten).

Erster Weltkrieg: Bilder wie dieses prägten lange die Vorstellung von der Reaktion auf den Kriegsausbruch in Deutschland: Junge Männer reagieren begeistert auf die Bekanntmachung der Mobilmachung.

Bilder wie dieses prägten lange die Vorstellung von der Reaktion auf den Kriegsausbruch in Deutschland: Junge Männer reagieren begeistert auf die Bekanntmachung der Mobilmachung.

Vor allem aber wirken viele Fotos, die in Deutschland im Sommer 1914 entstanden, so, als sei der Ausbruch des Ersten Weltkriegs eine einzige patriotische Jubelfeier gewesen: Gruppen junger Männer ziehen johlend durch die Straßen und schwenken ihre Hüte, lächelnde Soldaten nehmen Blumen von Frauen entgegen oder winken aus Eisenbahnwaggons mit Aufschriften wie "Freie Fahrt über Lüttich nach Paris" oder "Zum Frühstück auf nach Paris".

Kriegseuphorie kann sich nicht jeder leisten

Sehnte sich ein Großteil der Deutschen im Sommer 1914 nach einem großen Knall? Zogen sie tatsächlich begeistert und voller Heldenmut in den Krieg, großem Leid und frühem Tod entgegen? Diese Vorstellung war über Jahrzehnte hinweg im kollektiven Bewusstsein der Deutschen verankert. In jüngerer Zeit wurde sie durch eine Reihe wegweisender Forschungen berichtigt.

So schildert der Historiker Wolfgang Kruse Beobachtungen eines dänischen Abgeordneten im deutschen Reichstag. Hans Peter Hanssen hatte von der herrschenden Kriegsbegeisterung gelesen und wunderte sich bei seiner Berlinfahrt Anfang August: "Das Gegenteil scheint der Fall zu sein ..." Das Gegenteil? Doch worüber berichtete die zeitgenössische Presse dann? Und wovon zeugten die Jubelfotos?

  • In den Tagen nach dem Ultimatum Österreich-Ungarns an Serbien am 23. Juni 1914 und vor allem nach der Kriegserklärung Wiens an Belgrad fünf Tage später, trieb es in den Großstädten tatsächlich zahllose Menschen auf die Straße (zum Beispiel in München). Grund war jedoch meist ein Informationsbedürfnis. In Zeiten, in denen es nicht einmal Radio gab, war die Straße der Ort, wo es am schnellsten Neuigkeiten gab. Die Massen auf den Straßen waren in erster Linie neugierig, erregt, angespannt - und nicht begeistert.
  • Spektakuläre Ausbrüche spontaner Kriegsbegeisterung gab es durchaus. Nur "es war nicht Deutschland", wie der amerikanische Historiker Jeffrey Verhey feststellte, dass da in den Tagen vor Kriegsausbruch in Gruppen durch die Straßen der Hauptstädte zog oder in besseren Cafés patriotische Lieder schmetterte. Sondern es waren fast ausschließlich Studenten, Angestellte oder auch ältere Teilnehmer aus besseren Gesellschaftskreisen, kurz: vor allem Bildungsbürger. Ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung betrug gerade einmal 0,8 Prozent, wie der kürzlich verstorbene Historiker Hans-Ulrich Wehler aufgezeigt hat.
  • Die Reaktion der Bevölkerungsmehrheit auf den drohenden Krieg sah anders aus. In den Tagen vor Kriegsausbruch rief die SPD in Berlin zu Anti-Kriegs-Demonstrationen auf. Trotz offiziellen Verbots nahmen mehr als 100 000 Menschen an diesen Protestzügen teil - weit mehr als an den patriotischen Demonstrationen. Zeitungen berichten in den Tagen um den Kriegsausbruch von einem regelrechten Ansturm auf die Banken sowie von Hamsterkäufen in Lebensmittelläden.
  • Bei der städtischen Arbeiterschaft, aber auch bei der ländlichen und bäuerlichen Bevölkerung (mehr dazu hier) herrschte kein patriotischer Überschwang, sondern Angst, Verzweiflung, ja Panik. Wer sollte die Familien ernähren, wenn die wichtigsten Verdiener in den Krieg ziehen mussten, wer die Ernte einfahren, wenn die männlichen Arbeitskräfte fehlten? Ein Pfarrer im Berliner Arbeiterviertel Moabit stellte Wehler zufolge fest, dass "die akademische Begeisterung, wie sie sich der Gebildete leisten kann" zu fehlen scheine. Drastischer beschrieb der junge Bremer Sozialdemokrat Wilhelm Eildermann dem Historiker Tillmann Bendikowski zufolge die Stimmung: "Alle haben das Gefühl: Es geht direkt zur Schlachtbank."
  • Keine Kriegsbegeisterung gab es in den Grenzgebieten. In Elsaß-Lothringen oder im Osten des Deutschen Kaiserreichs herrschte stattdessen große Furcht vor dem drohenden Krieg (nachzulesen auch in den Münchner Neuesten Nachrichten vom 20. Juli 1914). Im Osten löste die Angst vor dem Kriegsgegner Russland eine Fluchtwelle aus.

Begeistert vom heraufziehenden Krieg war also nur eine kleine, aber öffentlich wirksame Bevölkerungsgruppe. Und auch ihr lauter nationalistischer Jubel sollte schon bald anderen Gefühlen weichen - vor allem nach der Kriegserklärung Englands gegen das Kaiserreich am 4. August 1914 machte sich banger Ernst breit. Eine neue Welle patriotischen Überschwangs in der zweiten Monatshälfte war wohl eher einem Gefühl der Erleichterung geschuldet - denn hier folgte etwa drei Wochen lang Sieg auf Sieg.

Propaganda als Basis des "Augusterlebnisses"

Das zentrale Element dessen, was sich schon bald als "Augusterlebnis" oder auch "Geist von 1914" im kollektiven Bewusstsein verankern sollte, war, wie Historiker Verhey erforscht hat, ein "Gemisch" verschiedener, oft auch widerstreitender Gefühle, das von Spannnung, Erregung, Stolz, Begeisterung und Zuversicht bis zu Panik und Verzweiflung reichte. Und es war das offenbar weit verbreitete Gefühl, in einer historisch bedeutsamen Zeit zu leben, einer Zeit des Umbruchs und einschneidender Veränderungen. Das Augusterlebnis war keine Erfindung, aber, so Verhey: "Deutschland war nicht in Begeisterung vereint, sondern in Entschlossenheit."

Diese Entschlossenheit rührte wesentlich von der Überzeugung her, dass Deutschland deshalb in den Krieg ziehe, weil es von aggressiven äußeren Feinden dazu genötigt werde. Diese Ansicht war über alle Klassen hinweg verbreitet - ein unglaublicher Täuschungs- und Propaganda-Erfolg der Führungsspitze in Berlin, die doch hinter den Kulissen alles tat, um den Krieg heraufzubeschwören.

Dass der Krieg als von außen aufgezwungener Konflikt wahrgenommen wurde, war wohl auch einer der Gründe, warum sich der Mythos von der Kriegsbegeisterung noch Jahrzehnte nach dem Ersten Weltkrieg halten konnte.

Berliner mit Proviant, 1914 | Berliners with a food basket, 1914

Besser vorsorgen: Berliner beim Lebensmittelkauf zur Zeit der Julikrise 1914

(Foto: Sueddeutsche Zeitung Photo)

Die Russophobie der Sozialdemokraten, ihre Angst vor dem "Blutzarentum" des mächtigen Reiches im Osten und die Annahme, einen Verteidigungskrieg zu führen, führte (neben strategischen Überlegungen) nämlich dazu, dass die SPD am 4. August 1914 im Reichstag Kriegskredite und erste Ausnahmegesetze bewilligte - als ob es die Anti-Kriegs-Demonstrationen wenige Tage zuvor nicht gegeben hätte.

Sozialdemokraten unter Rechtfertigungsdruck

Gerade die SPD sah sich wegen ihrer 180-Grad-Wendung nach dem verlorenen Krieg dem Vorwurf ausgesetzt, eingeknickt zu sein. Der Verweis auf eine angeblich allgemeine Kriegsbegeisterung, der sie sich nicht habe entziehen können, kam ihr dabei gerade recht. Von der nationalistischen Rechten wurde der vermeintlich volkseinigende "Geist von 1914" beschworen und instrumentalisiert - vor allem im Dritten Reich war es eine Vorstellung, auf die man sich gerne bezog.

Ein Weiteres zur Klischeebildung leisteten umfassende Zensurbestimmungen, die in Deutschland und Österreich unmittelbar bei Kriegsausbruch in Kraft traten. Kriegskritische Stimmen in Zeitungen wurden unterdrückt - und konnten so in späteren Jahrzehnten sehr viel schwerer ausgemacht werden als die der Kriegsbefürworter.

Historiker Kruse hat zudem noch eine weitere, für seine Zunft wenig schmeichelhafte Vermutung, warum sich die Vorstellung von Volksmassen, die begeistert und in patriotischem Taumel befangen auf die Schlachtfelder zogen, so lange halten konnte: die Vorurteile der Forscher. Die unter ihnen weit verbreitete Vorstellung vom "Irrationalismus und Fanatismus der Massen" hätten demnach dazu beigetragen, dass der Mythos der Kriegsbegeisterung lange Zeit nicht hinterfragt wurde.

Wie nun die neueren Forschungen zeigen, dachten vor allem die unteren gesellschaftlichen Schichten im Ersten Weltkrieg weitaus rationaler als lange vermutet. Der Krieg war ihnen kein Anlass zum Jubeln. "Akute Geistesverwirrung" herrschte woanders.

Literatur:

  • Kruse, Wolfgang: Die Kriegsbegeisterung im Deutschen Reich zu Beginn des Ersten Weltkrieges, in: Ders.: Der Erste Weltkrieg, München 2014, S. 180-196
  • Verhey, Jeffrey: Der "Geist von 1914" und die Erfindung der Volksgemeinschaft, Hamburg 2000
  • Wehler, Hans-Ulrich: Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 4., München 2003
  • Bendikowski, Tillmann: Sommer 1914. Zwischen Begeisterung und Angst - wie Deutsche den Kriegsbeginn erlebten, München 2014
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