Giftgas im Ersten Weltkrieg:Die schreckliche Erfindung des Patrioten Fritz Haber

Fritz Haber bei einem Laborversuch, 1918

Fritz Haber (re.) beobachtet einen Versuch in einem seiner Labors im Jahre 1918

(Foto: Süddeutsche Zeitung Photo)

Fritz Habers Forschung rettet Unzählige vor dem Verhungern - und tötet im Ersten Weltkrieg Tausende. Im April 1915 Jahren beginnt die deutsche Armee mit Hilfe des späteren Nobelpreisträgers Giftgas einzusetzen - was Habers Ehefrau nicht ertragen will.

Von Markus C. Schulte von Drach

In ihren Labors und Forschungsstätten gewannen Wissenschaftler Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts Erkenntnisse, die unser Weltbild vom Mikro- bis zum Makrokosmos erschütterten. Doch ihr Wissen verwendeten manche auch mit großem Engagement dazu, Waffen zu entwickeln, mit denen sich möglichst viele Menschen zugleich töten ließen.

Während des Ersten Weltkriegs mussten sich viele Forscher entscheiden, welchen Weg sie gehen wollten. Unter ihnen war Fritz Haber eine der wichtigsten und zugleich tragischsten Persönlichkeiten.

"Im Frieden der Menschheit, im Krieg dem Vaterland"

Der 1868 geborene deutsche Chemiker hatte 1908 herausgefunden, wie sich Ammoniak synthetisieren ließ. Gemeinsam mit dem Industriellen Carl Bosch entwickelte er ein Verfahren, mit dem sich Kunstdünger im industriellen Maßstab herstellen ließ. Diese Arbeit, für die Haber 1919 mit den Nobelpreis ausgezeichnet wurde, bewahrte Millionen von Menschen vor dem Hungertod.

Doch ab 1914 stellte er - wie viele andere Wissenschaftler auch - sein Wissen vollständig in den Dienst des deutschen Militärs. "Im Frieden der Menschheit, im Krieg dem Vaterland", sagte er.

Nach dem Beginn des Weltkriegs blockierten die Alliierten die Versorgung Deutschlands mit dem für die Munitionsproduktion notwendigen Salpeter aus Chile. Haber arbeitete anfänglich für die Kriegsrohstoffabteilung, wo er für die Ammoniaksynthese verantwortlich war. Ohne sein Wissen und seine Arbeit hätte das Land vielleicht schon lange vor 1918 kapitulieren müssen.

Haber aber war Patriot. Er sah es als seine Pflicht an, seinem Vaterland im Kampf zu dienen. Doch nicht als einfacher Soldat, sondern dort, wo er seine besonderen Fähigkeiten zum Einsatz bringen konnte: in den Laboratorien des Kaiser-Wilhelm-Instituts für physikalische Chemie und Elektrochemie (KWI) in Berlin-Dahlem, dessen Direktor er war.

Angesichts des Stellungskrieges schlug er schon früh den Einsatz von Chlorgas vor. An Waffen mit Phosgen oder Chlor arbeiteten auch deutsche Chemiefirmen - sogar schon vor dem Krieg -, in der Hoffnung, sie an das Militär verkaufen zu können. Doch die Generäle waren von ihrer Wirksamkeit nicht überzeugt. Und schließlich gab es noch das Giftverbot der Haager Landkriegsordnung. Doch als die Kämpfe begannen, ließ der Widerstand des Militärs schnell nach.

Bereits im Oktober 1914 feuerte deutsche Artillerie bei Neuve-Chapelle Geschosse mit Dianisidin aus der Produktion des Unternehmens Farbenfabriken Friedrich Bayer (FFB) auf die französischen Stellungen. Die reizende Substanz, die eigentlich zur Farbherstellung diente, blieb allerdings ohne Wirkung auf die französischen Soldaten.

Fritz Haber setzte dagegen auf Chlorgas. Der Kernphysiker Otto Hahn, damals Habers Mitarbeiter, erklärte in seiner Autobiografie, Haber sei davon ausgegangen, dass sich unzählige Menschenleben retten ließen, wenn der Krieg durch den Einsatz von Giftgas schneller beendet würde - mit einem deutschen Sieg natürlich.

Falsche Hoffnungen auf ein schnelles Kriegsende

Deutsche Soldaten während eines Gasangriffs in Flandern im Ersten Weltkrieg

Deutsche Soldaten während eines Gasangriffs in den flandrischen Dünen.

(Foto: Süddeutsche Zeitung Photo)

Haber hing demnach offenbar ähnlichen - falschen - Vorstellungen an wie vor ihm schon Alfred Nobel. Der schwedische Industrielle hatte gehofft, dass besonders starke Vernichtungswaffen abschreckende Wirkung haben würden.

Stattdessen gruben die alliierte und deutsche Artillerie mit gigantischen Mengen hochexplosiver Sprengstoffe innerhalb von vier Jahren ganze Landstriche immer wieder komplett um.

Auch auf Hahns Hinweis, es handele sich um einen Verstoß gegen die Haager Konvention, sagte Haber, es wären doch die Franzosen gewesen, die mit gasgefüllter Gewehrmunition "den Anfang hierzu gemacht" hätten. Tatsächlich hatte Frankreich nach Kriegsbeginn den Einsatz von Tränengas-Patronen getestet, die aber kaum Wirkung gezeigt hatten.

Preußens Kriegsminister und Chef des Großen Generalstabs, General Erich von Falkenhayn, ließ sich vom Potenzial chemischer Waffen überzeugen und drängte die Generäle nun, entsprechende Versuche an der Front vorzunehmen. General Berthold von Deimling, Kommandeur des XV. Korps bei Ypern, berichtete später über die Vorbereitungen:

Der Krieg ist Notwehr und kennt kein Gebot

"Falkenhayn eröffnete uns, das ein neues Kampfmittel, das Giftgas, zur Anwendung kommen sollte, und mein Korpsbezirk sei für den ersten Versuch in Aussicht genommen. Das Giftgas würde in Stahlflaschen geliefert werden, die in die Schützengräben einzubauen und bei günstigem Wind abzublasen seien. Ich muss gestehen, dass die Aufgabe, die Feinde vergiften zu sollen wie Ratten, mir innerlich gegen den Strich ging, wie es wohl jedem anständig fühlenden Soldaten so gehen wird. Aber durch das Giftgas konnte vielleicht Ypern zu Fall gebracht werden [...] Also los! Helf' was helfen mag! Der Krieg ist Notwehr und kennt kein Gebot." Diese Haltung setzte sich in der Armee durch.

Die meisten Naturwissenschaftler dagegen brauchten gar nicht erst überzeugt zu werden. Nur wenige Ausnahmen gab es, wie etwa die Physiker Max Born ("Ich hatte eine starke Abneigung gegen die chemische Kriegsführung, lehnte alle Angebote, daran teilzunehmen, ab"). Auch Richard Willstätter, Chemiker, Nobelpreisträger und stellvertretender Direktor des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Chemie in Berlin hatte sich Hahn zufolge "dazu nicht hergegeben". Tatsächlich beteiligte sich Willstätter auf Habers Drängen immerhin an der Entwicklung von Gasmasken.

Fritz Haber an seinem Schreibtisch, 1931

Fritz Haber 1931 an seinem Schreibtisch

(Foto: Süddeutsche Zeitung Photo)

Im Frühjahr 1915 konnte Fritz Haber an der Front in Flandern sein Giftgas ausprobieren. Als der Wind am 22. April 1915 an einem Frontabschnitt bei Ypern in Richtung Gegner blies, öffneten seine Leute die Stahlflaschen mit Chlor und eine Wolke Giftgas - sechs Kilometer breit und bis zu 900 Meter tief - wurde in die französischen Stellungen geweht. Die Franzosen hatten zwar von den Vorbereitungen Kenntnis gehabt, das Hauptquartier aber hatte aber die Möglichkeit eines Gasangriffs offenbar nicht ernst genommen.

Einige Tausend französische Soldaten starben, Tausende weitere wurden verletzt. Die Deutschen aber, von ihrem eigenen Erfolg überrascht, schickten zwar Soldaten in die Lücke, die mit speziell präparierten Mullkissen geschützt waren. Sie konnten die Gelegenheit aber nicht zum Durchbruch nutzen. Durch Gegenangriffe der Alliierten wurde die Front bald wieder stabilisiert.

Unter dem nun zum Hauptmann beförderten Haber entwickelten die Experten der Chemischen Abteilung im Preußischen Kriegsministerium danach immer tödlichere Giftgase, die dann mit Granaten verschossen wurden. Chlorgas, ursprünglich als Tränengas gedacht, wurde zunehmend mit Phosgen versetzt (Grünkreuz), auch Senfgas (Lost, Gelbkreuz) wurde eingesetzt. Außerdem wurden zum Schutz der eigenen Soldaten immer bessere Gasmasken entwickelt.

Giftgas im Ersten Weltkrieg: Britische Soldaten 1918, die in Flandern durch deutsches Gas geblendet wurden, warten auf ihre Behandlung.

Britische Soldaten 1918, die in Flandern durch deutsches Gas geblendet wurden, warten auf ihre Behandlung.

(Foto: gemeinfrei)

Gas wurde nicht nur an der Westfront eingesetzt, sondern auch im Osten. In seiner Autobiografie schrieb Hahn 1968 über seine Erfahrungen dort: "Ich war damals tief beschämt und innerlich sehr erregt, denn schließlich hatte ich doch selbst diese Tragödie mit ausgelöst. Erst haben wir die russischen Soldaten mit unserem Gas angegriffen, und als wir dann die armen Kerle liegen sahen, haben wir ihnen mit unseren Selbstrettern (frühe Atemschutzgeräte aus dem Bergbau; Anm. d. Red.) das Atmen erleichtert. Da wurde uns die ganze Unsinnigkeit des Krieges bewusst. [...] Doch retten konnten wir die armen Menschen nicht mehr."

Auch die Alliierten setzten nach Ypern auf chemische Kampfstoffe. Dieter Martinetz von der Akademie der Wissenschaften in Leipzig schätzt, dass während des Ersten Weltkriegs mehr als eine Million Menschen durch chemische Waffen verletzt wurden. Bis zu 90 000 von ihnen kamen ums Leben.

"Perversion der Wissenschaft"

Nach dem Krieg befürchtete Fritz Haber, von den alliierten Siegermächten als Kriegsverbrecher gesucht zu werden. Er reiste deshalb in die Schweiz und bemühte sich, die Staatsangehörigkeit der Eidgenossenschaft zu erlangen. Doch ein Auslieferungsgesuch der Alliierten kam nicht. Dafür erfuhr Haber, dass das Preiskomitee der Stockholmer Akademie entschied hatte, ihm trotz seiner Rolle im Gaskrieg für die Ammoniaksynthese mit dem Nobelpreis für Chemie für das Jahr 1918 auszuzeichnen.

Während sein Einsatz für die Chemiewaffen Haber in keinen Gewissenskonflikt getrieben hatte, wirkte sich seine Arbeit auf seine Frau Clara tragisch aus. Die einst selbst erfolgreiche Wissenschaftlerin - sie war die erste Deutsche mit einem Doktortitel in Chemie - war nach ihrer Heirat von Haber gedrängt worden, sich gegen ihren Willen auf eine Rolle als Ehefrau und Mutter zu beschränken.

Auschwitz-Monowitz IG Farben

Die IG-Farben-Gesellschaft Degesch produzierte im Konzentrationslager Auschwitz III/Monowitz auch das Gift Zyklon-B für die Vernichtungs-Gaskammern. In dem KZ kamen zwischen 20 000 und 30 000 Zwangsarbeiter ums Leben.

(Foto: dpa)

Unerträglich war für Clara, geborene Immerwahr, die Arbeit ihres Mannes mit dem Giftgas, die sie als "Perversion der Wissenschaft" kritisierte. Am 1. Mai, wenige Tage nach dem Gasangriff bei Ypern, veranstaltete Haber in seiner Villa eine Siegesfeier. In dieser Nacht tötete sich Clara mit Habers Dienstwaffe.

Haber blieb zumindest nach außen hin davon unbeeindruckt, und widmete sich weiter intensiv der Weiterentwicklung der chemischen Waffen. Kritikern des Gaskrieges antwortete er, der Tod durch Gas sei nicht qualvoller als durch konventionelle Geschosse.

Daneben arbeitete er an der Entwicklung von Schädlingsbekämpfungsmitteln mit. So wurde er Leiter des 1917 gegründeten "Technischen Ausschusses für Schädlingsbekämpfung" (Tasch), in dem Wissenschaftler vom KWI und des Unternehmens Degussa arbeiteten. Bereits 1917 testete der Tasch den Einsatz von Blausäure. 1919 stieß Haber die Gründung der Deutschen Gesellschaft für Schädlingsbekämpfung (Degesch) als gemeinnütziges Wirtschaftsunternehmen an und übernehm bis 1920 deren Leitung.

Menschen im Krieg

Das Porträt ist die Langfassung eines Textes aus dem Buch "Menschen im Krieg", mit vielen Bildern aus dem SZ-Archiv und Essays. Zu erhalten unter sz-shop.de. 24,90 €, für SZ-Abonnenten 21,10 €

(Foto: SZ)

Auf der Grundlage der Arbeiten, die noch unter Haber stattgefunden hatten, entwickelte die Degesch 1922 das Gift "Zyklon B" - jener Stoff, mit dem in den Gaskammern deutscher Konzentrationslager von 1941 an insbesondere Juden systematisch ermordet wurden. Zu den Millionen Opfern gehörten auch enge Verwandte des Chemikers

Nach Hitlers Machtergreifung verließ Haber seine Heimat

Dem konvertierten Juden Fritz Haber blieb es erspart, das zu erleben. 1933 übernahmen die Nationalsozialisten unter Adolf Hitler die Macht und sorgten mit dem sogenannten Arierparagraphen dafür, dass am KWI alle jüdischen Mitarbeiter entlassen wurden. Haber, der als Veteran des Ersten Weltkriegs - noch - nicht betroffen war, gab seinen Posten freiwillig auf. Er verließ das Vaterland, für das sich einzusetzen ihm so wichtig gewesen war.

Er reiste nach Cambridge, Großbritannien, wo die Universität ihm die Gelegenheit geben wollte, weiter zu forschen - allerdings unbezahlt. Dann erhielt er das Angebot des Chemikers Chaim Weizmann, an dessen neu gegründetes Daniel-Sieff-Forschungsinstitut (das heutige Weizmann-Institut) im heute israelischen Rehovot zu kommen. Auf der Reise dorthin starb Haber im Januar 1934 in der Schweiz.

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