Anschläge in Norwegen:Breivik spricht von "weiteren Zellen im Ausland"

Der Attentäter von Oslo und Utøya widerspricht der These vom Einzeltäter: Neben zwei Zellen in Norwegen gebe es noch etliche weitere im westlichen Ausland, sagte er nach Angaben seines Anwalts Geir Lippestad. Der Jurist beschrieb seinen Mandanten als "sehr kalte Person" und erklärte, er halte Breivik für geisteskrank. Derweil prüft die norwegische Justiz, den 32-Jährigen wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit vor Gericht zu stellen, um so den Strafrahmen zu erhöhen.

Der Verteidiger des norwegischen Attentäters Anders Behring Breivik hält seinen Mandanten für unzurechnungsfähig und will dies auch vor Gericht vertreten. Anwalt Geir Lippestad sagte auf einer Pressekonferenz in Oslo: "Die ganze Sache deutet darauf hin, dass er geisteskrank ist." Er verwandte den englischen Begriff "insane".

Breivik räumte am Montag vor dem Osloer Haftrichter die Anschläge ein. Das Massaker auf der Insel Utøya begründete er damit, dass er die sozialdemokratische Partei Norwegens, die Arbeiderpartiet, möglichst hart treffen wollte. Die meisten seiner Opfer waren Teenager, die ein Sommerlager der sozialdemokratischen Jugendorganisation AUF (Arbeidernes Ungdomsfylking) besuchten. Seine Attacken wertete Breivik als "starkes Signal" gegen Zuwanderung und deren Zulassung durch die regierenden Sozialdemokraten.

Lippestad, den Breivik selbst für seine Verteidigung gewählt hatte, beschrieb seinen Mandanten auf der Pressekonferenz an diesem Dienstag als "sehr kalte Person": "Er hat kein Mitgefühl mit den Opfern gezeigt." Darüber hinaus habe sein Mandant angegeben, er sei Teil eines antiislamischen Netzwerks. Die Ermittler hegen allerdings Zweifel an dieser Darstellung.

Breivik zufolge gebe es zwei weitere Zellen "unserer Organisation" im Ausland. Allerdings wolle er dazu keine näheren Angaben machen. Schon vor dem Haftrichter sprach Breivik von zwei weiteren norwegischen Zellen. "Er weigert sich, etwas über diese anderen Zellen zu sagen", erklärte Lippestad.

Breivik sei überrascht gewesen, dass er nach dem Bombenanschlag in Oslo überhaupt noch die eine Autostunde entfernte Insel Utøya erreiche habe. Breivik hatte als Motiv für die Tötung von mindestens 68 Jugendlichen eines sozialdemokratischen Sommerlagers angegeben, dass er die Partei so hart wie möglich treffen wollte. Anwalt Lippestad bestätigte, er selbst sei Mitglied der Arbeiterpartei. Davon wisse Breivik aber wohl nichts.

Der Anwalt berichtete weiter, der Inhaftierte glaube, er befinde sich in einem Krieg. "Und wenn du in einem Krieg bist, kannst du Dinge wie diese machen", erläuterte er die Sicht seines Mandanten. Breivik meine, dass die Welt ihn erst in 60 Jahren verstehen werde. "Er führt diesen Krieg und ist irgendwie stolz darauf."

Es sei offen, ob der 32-Jährige vor Gericht auf Unzurechnungsfähigkeit plädieren werde. Das könnte schwierig sein, weil Breivik denke, er sei "der Einzige, der die Wahrheit verstehe", erklärte Lippestad. Die von der Justiz angekündigte rechtspsychiatrische Untersuchung des Attentäters dürfte nach Angaben des Anwalts sechs bis zwölf Monate dauern. Auch der Gerichtsprozess werde eine "ausgesprochen lange und komplizierte Angelegenheit", sagte er.

Der 32-Jährige habe Drogen genommen, die ihn wach halten sollten, sagte Breiviks Anwalt. Seine Familie habe bislang kein Besuchsrecht beantragt. Breiviks Vater Jens, ein pensionierter Diplomat, der in Südfrankreich lebt und sich zunächst zurückgezogen hatte, hatte dem norwegischen Fernsehsender TV2 gesagt, sein Sohn hätte sich besser selbst getötet. Seine ehemalige Stiefmutter erklärte sich am Dienstag erstmals öffentlich.

Anders Behring Breivik "war ein ganz normaler Norweger, ein wohlerzogener Junge. Man kann das wirklich nicht verstehen", sagte Tove Oevermo der Nachrichtenagentur AP. "Ich habe keine Anzeichen dafür gesehen, dass er diese Person ist. Es ist wirklich ein Schock." Eine besondere Weltanschauung sei ihr bei Breivik nicht aufgefallen. Er habe über Politik "wie jede normale Person gesprochen, nicht mehr als das. Er hat niemals den Islam erwähnt oder den Hass, den er ihm entgegen gebracht haben muss", sagte Oevermo.

Breivik ist für die kommenden acht Wochen in Untersuchungshaft, die ersten vier Wochen verbringt er in Isolationshaft. Der zuständige Richter Kim Heger hatte die Untersuchungshaft am Montag nach der ersten Anhörung in Oslo angeordnet - sie ist doppelt so lang viel wie normalerweise üblich.

Klage wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit?

Derweil ringt Norwegens Justiz mit dem richtigen Umgang mit dem Attentäter: Die Ermittler erwägen offenbar eine Strafverfolgung Breiviks wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Bislang sei dies aber nur "eine Möglichkeit", berichtete die Zeitung Aftenposten unter Berufung auf Staatsanwalt Christian Hatlo.

Dies hätte Auswirkungen auf den Strafrahmen: Eine Verurteilung wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit zieht in Norwegen eine Maximalstrafe von 30 Jahren Haft nach sich. Bislang hatte die Polizei die Anschläge in Oslo und auf der Insel Utøya mit mindestens 76 Toten bei ihren Ermittlungen gegen Breivik als Terroranschlag gewertet, wonach der 32-Jährige zu maximal 21 Jahren Gefängnis verurteilt werden könnte.

Die Klage wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit ist in Paragraph 102 des norwegischen Strafgesetzbuches geregelt, er umfasst unter anderem die Verfolgung von Menschen aus politischen Gründen. Den Paragraphen gibt es erst seit 2008: Er war ins norwegische Strafgesetzbuch aufgenommen worden, um völkerrechtlichen Verpflichtungen nachzukommen. Konkret geht es um Artikel 7 des Römischen Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs, der damit in norwegisches Recht umgesetzt wurde.

Breivik fiel Polizei bereits im März auf

Darüber hinaus war bekanntgeworden, dass die norwegischen Sicherheitsbehörden bereits im März auf den mutmaßlichen Attentäter aufmerksam geworden waren. Der 32-Jährige sei auf einer Liste von 50 bis 60 Namen aufgetaucht, weil er bei einem polnischen Chemieunternehmen für umgerechnet etwa 15 Euro eingekauft habe. Allerdings habe es sich um legale Substanzen gehandelt.

Die Firma stehe unter Beobachtung, Breiviks Einkauf sei aber zu unbedeutend gewesen, um weiter verfolgt zu werden. "Wir hatten absolut nichts gegen Behring Breivik in der Hand, er lebte ein unglaublich gesetzestreues Leben", sagte die Chefin des Polizeisicherheitsdiensts PST, Janne Kristiansen.

Den Behördenangaben zufolge bestellte Breivik genau die Substanzen, die er laut seiner im Internet veröffentlichten 1500-seitigen Schrift zum Bau von Bomben benutzen wollte. In dem Manifest schrieb der Verdächtige unter anderem von 300 Gramm Natriumnitrat, die er im vergangenen Dezember bestellt habe. Bei Rückfragen wollte er seinen Aufzeichnungen zufolge angeben, das Salz zum Pökeln von Elchfleisch zu brauchen.

Außerdem hat Breivik in seinem Manifest auch mögliche Anschlagsziele in der Schweiz aufgeführt. Genannt sind beispielsweise die Raffinerien von Cressier und Collombey sowie die Atomkraftwerke von Beznau, Gösgen, Leibstadt und Mühleberg. Breivik schreibt von etwa einer halben Million "multikulturellen Verrätern" in der Schweiz. Sie hätten die Einwanderung der Muslime erleichtert.

Pamphlet ging auch an deutsche Adressen

Die britische Polizei geht derweil Berichten nach, dass der Attentäter Breivik Verbindungen zu rechtsextremen britischen Gruppen hatte. Mehrere Zeitungen nannten am Dienstag Details, denen zufolge Breivik im vergangenen Jahr unter anderem eine Demonstration der ultrarechten English Defence League (EDL) besucht haben und mit Mitgliedern der Gruppe über das Internet in Kontakt gewesen sein soll. Laut Independent und Daily Telegraph hatten etwa 150 EDL-Mitglieder über das Internetnetzwerk Facebook Verbindungen zu Breivik. Der Norweger soll einen "hypnotischen Effekt" ausgeübt haben, wird ein EDL-Mann zitiert.

Anschläge in Norwegen: Geir Lippestad, der Anwalt des mutmaßlichen Attentäters, beim Gespräch mit Journalisten nach der Pressekonferenz in Oslo.

Geir Lippestad, der Anwalt des mutmaßlichen Attentäters, beim Gespräch mit Journalisten nach der Pressekonferenz in Oslo.

(Foto: ASSOCIATED PRESS)

Sein 1500-Seiten starkes Pamphlet hat Breivik im Internet auch an deutsche Adressen verschickt. Dies bestätigte inzwischen das nordrhein-westfälische Landeskriminalamt. Der Tagesspiegel hatte berichtet, dass Breivik das Manifest unter anderem an Neonazis in Dortmund verschickt hatte, allerdings hatten die Sicherheitsbehörden bislang erklärt, es gebe keine Bezüge Breiviks nach Deutschland.

Junge Sozialdemokraten wollen sich Utøya "zurückholen"

Die norwegische Polizei hat am Dienstag mit der Veröffentlichung der Namen von Opfern der beiden Anschläge begonnen. Zunächst wurden Namen, Alter und Heimatorte von vier Opfern bekannt gegeben. Dabei handelte es sich um drei Personen, die bei dem Bombenanschlag in Oslo getötet wurden, sowie eine Person, die auf der Insel Utoya zu Tode kam. Das Alter der Opfer liegt zwischen 23 und 61 Jahren.

Die jungen norwegischen Sozialdemokraten erklärten derweil, sie wollten die kleine Fjordinsel Utøya bei Oslo auch nach dem Massaker mit mindestens 68 Toten für ihre jährlichen Sommerlager nutzen. Der Vorsitzende der Jugendorganisation, Eskil Pedersen, sagte am Dienstag in Oslo: "In dieser Lage schicken wir eine klare Botschaft: Wir wollen uns Utøya zurückholen."

Die Menschen in Norwegen haben am Montag in so gut wie allen norwegischen Städten mit "Blumenzügen" den Opfern der Anschläge gedacht. Größere Menschenmengen gab es seit Ende des Zweiten Weltkrieges nicht mehr, berichten Agenturen, allein in Oslo gingen mehr als 200.000 auf die Straße. Überdies erinnerte das Land mit einer Schweigeminute an die Opfer. Überall im Land legten die knapp fünf Millionen Bürger die Arbeit nieder, Züge hielten an, in der Hauptstadt Oslo ruhte der Straßenverkehr.

Mette-Marit, Ehefrau von Kronprinz Haakon, weinte, während die Menschen mitgebrachte Rosen in die Höhe hielten. Zu den Opfern des Massakers auf der Insel gehört auch ein Stiefbruder der norwegischen Prinzessin. Kronprinz Haakon sagte den Zuhörern, dass man die schrecklichen Morde nicht ungeschehen machen könne - "aber wir können wählen, was sie mit uns machen".

Er sei jetzt völlig sicher, dass Norwegen "diese Prüfung bestehen wird", sagte Ministerpräsident Jens Stoltenberg, als er die riesige Menschenmenge sah, die sich nach einem Facebook-Aufruf vor dem Osloer Rathaus versammelt hatte. "Wir werden uns unsere Geborgenheit zurückerobern", rief der 52-jährige sozialdemokratische Regierungschef aus.

EU-Innenminister wollen über Extremismus diskutieren

Auch wenn Norwegen nicht EU-Mitgliedsland ist, wollen die EU-Innenminister zusammenkommen, um über die Gefahren von Extremismus und Fremdenfeindlichkeit in Europa zu diskutieren. "Die Tragödie in Norwegen erfordert das sehr deutlich", sagte ein Sprecher von EU-Innenkommissarin Cecilia Malmström in Brüssel.

Das Thema werde auf der Tagesordnung des nächsten Treffens der EU-Innenminister Ende September stehen. "Im Moment haben wir vor, auch norwegische Behörden einzuladen, um mögliche Konsequenzen der Anschläge zu diskutieren", sagte der Sprecher. Es solle um einen Meinungs- und Informationsaustausch gehen.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: