Ermittlungen:Luftküsse nach der Bluttat

Der Attentäter schlägt in einem Einwandererstadtteil Londons zu. Bei der Festnahme zeigt er offen seine Motive und keinerlei Bedauern. Den Behörden war der Mann bisher nicht aufgefallen.

Von Christian Zaschke

Als der Mann, der Montagnacht einen Lieferwagen im Nord-Londoner Stadtteil Finsbury Park in eine Gruppe von Menschen gesteuert hatte, schließlich von der Polizei in Gewahrsam genommen und abgeführt wurde, lachte er und verteilte Luftküsse. Er zeigte nicht das kleinste bisschen Bedauern, im Gegenteil, er verhöhnte die Menschen, die er soeben angegriffen hatte. Ein Mann kam ums Leben, zehn Menschen wurden bei der Attacke verletzt, von denen noch sieben in Krankenhäusern behandelt werden. Zwei von ihnen sind den Behörden zufolge schwer verletzt. Die Polizei stufte den Anschlag noch in der Nacht als terroristische Attacke ein. Sämtliche Opfer sind Muslime. Bei dem Täter handelt es sich um einen 48 Jahre alten weißen Mann.

Zum Tathergang ist bekannt, dass eine Gruppe sich um einen älteren Mann versammelt hatte, der offenbar kollabiert war und am Boden lag. Die Gruppe versuchte zu helfen. Es war zwanzig Minuten nach Mitternacht, als der Täter den Lieferwagen in eben diese Gruppe lenkte und den am Boden liegenden Mann überfuhr. Unklar ist bisher, ob dieser den dabei erlittenen Verletzungen erlag oder ob eine andere Todesursache vorliegt.

Als der Täter den Lieferwagen anschließend verließ, soll er gerufen haben: "Ich will alle Muslime töten." Er versuchte, zu Fuß zu entkommen, wurde jedoch von mehreren Männern an der Flucht gehindert. Sie rangen ihn zu Boden und schlugen auf ihn ein. Die Menge war äußerst aufgebracht, und wer weiß, was geschehen wäre, wenn nicht Mohammed Mahmoud, ein Imam der nahe gelegenen Finsbury-Park-Moschee, eingeschritten wäre. Er forderte die Männer auf, den Täter nur festzuhalten, bis die Polizei komme. Für sein Eingreifen wurde der Imam allseits gelobt.

Die Anti-Terror-Einheit von Scotland Yard geht derzeit davon aus, dass es sich um einen Einzeltäter handelt. Dennoch wird im Umfeld des Mannes ermittelt. Zudem werden zusätzliche Polizisten auf den Straßen von Finsbury Park patrouillieren. Scotland-Yard-Chefin Cressida Dick sagte: "Sie werden die lokale Gemeinschaft schützen und so lange da sein, wie sie benötigt werden." Besonders Moscheen würden zusätzlich bewacht.

Der Tatort liegt im Wahlkreis von Labour-Chef Corbyn - der zeigt sich "vollkommen schockiert"

Trotz der nächtlichen Stunde waren die Straßen in Finsbury Park im Moment des Anschlags sehr belebt. Noch bis zu diesem Samstag dauert der Fastenmonat Ramadan, weshalb sich viele Menschen in einem muslimischen Gemeindezentrum in der Nähe des Anschlagsortes zum abendlichen Fastenbrechen und Beten getroffen hatten. Finsbury Park ist ein ausgesprochen multikultureller Stadtteil mit einer großen muslimischen Gemeinde. Die Gegend ist Anlaufpunkt für viele Einwanderer. Das war schon früher so, als sich viele Iren im Stadtteil ansiedelten, und das ist trotz der fortschreitenden Gentrifizierung heute noch so, nur dass die Einwanderer mittlerweile aus aller Welt kommen. Eine der größten Gruppen bilden Menschen aus Algerien, weshalb ein Teil der Gegend den Spitznamen "Little Algiers" trägt. Zu den größten Konfliktpunkten unter den Einwohnern zählt die Frage, welchen Nord-Londoner Fußballklub man unterstützt: Tottenham oder Arsenal?

Das Viertel liegt im Wahlkreis von Labour-Chef Jeremy Corbyn, der große Teile der Nacht an der Stelle des Anschlags verbrachte und mit Einsatzkräften und Anwohnern sprach. Er sei "vollkommen schockiert", sagte er. Ähnlich wie Corbyn äußerten sich sämtliche führenden Politiker. Premierministerin Theresa May sagte: "Erneut galt der Angriff einfachen und unschuldigen Menschen, die einfach ihr Leben leben - diesmal galt er britischen Muslimen, die gemeinsam beim Fastenbrechen und beim Gebet waren in dieser heiligen Zeit des Jahres." Sie fuhr fort: "Wir kommen heute erneut zusammen, um diese Tat zu verurteilen und noch einmal zu betonen, dass Hass und Niedertracht nicht obsiegen werden." Am Montagnachmittag besuchte sie die Moschee.

"Tötet mich. Ich habe meinen Teil getan", soll der Attentäter gesagt haben

In den vergangenen Wochen musste May öfter solche Sätze sprechen, in denen sie beteuerte, dass der Terrorismus nicht die Oberhand behalten werde. Seit Wochen ist es fast so etwas wie eine Grundmelodie des Diskurses in Großbritannien geworden, dass die Gemeinschaft stärker sei als der Terror, dass man zusammenstehe im Angesicht der Bedrohung und sich nicht unterkriegen lasse. Das liegt daran, dass es bereits der vierte Terroranschlag im Land in drei Monaten war.

Finsbury Park Karte

Im März war ein Attentäter mit einem Auto auf der Westminster Bridge im Londoner Regierungsviertel über den Bürgersteig gerast und hatte dabei vier Menschen getötet und Dutzende verletzt. Anschließend rammte er den Wagen in einen Zaun am Parlament, stieg aus und versuchte, ins Gebäude zu gelangen. Dabei erstach er einen Polizisten, bevor er schließlich erschossen wurde. Im Mai hatte sich ein Selbstmordattentäter in der Manchester Arena nach einem Popkonzert in die Luft gesprengt und dabei 22 Menschen mit in den Tod gerissen und mehr als hundert verletzt. Und erst vor gut zwei Wochen hatten drei Männer mit einem Lieferwagen auf der London Bridge Menschen überfahren und anschließend mit Messern auf Passanten eingestochen. Sie töteten acht Menschen und verletzten 48. Die Attentäter wurden von der Polizei erschossen.

Bei diesen drei Angriffen handelte es sich jeweils um Taten islamistischer Terroristen. Die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) hat sie für sich reklamiert. Deshalb steht nun die Frage im Raum, ob der Angriff von Finsbury Park, der offenkundig gezielt Muslimen galt, eine Vergeltungstat war. Londons Bürgermeister Sadiq Khan besuchte den Tatort am Montagnachmittag und berichtete, seit der Attacke auf der London Bridge hätten Übergriffe auf Muslime in London deutlich zugenommen.

Der Täter war den Behörden bisher nicht bekannt, was wohl bedeutet, dass er nicht Mitglied in rechtsextremen oder sonstwie extremistischen Gruppen war. Während er nach der Tat von Passanten am Boden festgehalten wurde, soll er gesagt haben: "Tötet mich. Ich habe meinen Teil getan." Es ist auch dem Imam Mohammed Mahmoud zu verdanken, dass die Antwort auf tödliche Gewalt in dieser Montagnacht nicht tödliche Gewalt lautete.

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