Erich Maria Remarque im Ersten Weltkrieg:Sechs Wochen in der Hölle

Erich Maria Remarque Anfang 1919 mit seinem Hund Erster Weltkrieg Im Westen nichts Neues

Erich Maria Remarque Anfang 1919 mit seinem Hund, der angeblich "Wolf" hieß.

(Foto: Erich Maria Remarque-Friedenszentrum Osnabrück)

Der Schriftsteller Erich Maria Remarque war 1917 nur kurz an der Front. Doch das erlebte Grauen barg genug Stoff, um das berühmteste Buch gegen den Krieg zu schreiben: "Im Westen nichts Neues".

Von Hubert Wetzel

Während des Ersten Weltkriegs veröffentlichte die deutsche Armee fast täglich eine sogenannte Verlustliste. Darin waren jene Männer aufgeführt, die nicht mehr an der Front kämpfen konnten - weil sie gefallen oder verwundet waren, vermisst wurden oder in Gefangenschaft geraten waren. Mehr als 30 000 Zeitungsseiten füllten diese Verlustlisten im Lauf des Krieges, eng bedruckt mit Millionen Namen.

Auf der Liste vom 23. August 1917 findet sich dieser Eintrag: "Remark, Erich - 22.6.98 Osnabrück - schwer verwundet". Gemeint ist Erich Paul Remark, geboren am 22. Juni 1898 in Osnabrück und Musketier in einer preußischen Infanteriedivision - jener junge Mann, der gut zehn Jahre später unter dem Namen Erich Maria Remarque ein Buch über den Krieg schreiben wird. Ein schmaler Band nur, aber von brutaler Wucht: "Im Westen nichts Neues".

Remarques Leben nach dem überwältigenden Erfolg des Romans ist oft beschrieben worden. Nur sehr wenig ist hingegen über die Zeit bekannt, die er während des Kriegs beim Militär und an der Front verbracht hat; über jene Monate also, in denen er das sah, hörte und durchmachte, was er später aufschrieb. Es gibt aus dieser Zeit kaum Dokumente, kein Soldbuch, keine Feldpost, keine Militärakten. Wäre Remarque nicht später zu Ruhm gelangt, wäre von dem jungen Soldaten kaum mehr geblieben als eine Zeile in der Verlustliste.

Als der Erste Weltkrieg im August 1914 ausbricht, ist Remarque 16 Jahre alt und besucht in Osnabrück ein katholisches Seminar, in dem Volksschullehrer ausgebildet werden. Drei Mitschüler melden sich freiwillig zum Militär, Remarque hingegen bleibt Seminarist und wird erst im November 1916 mit seiner gesamten Klasse eingezogen. Als Rekrut kommt er zum Infanterieregiment Nr. 78 in Osnabrück und rückt Ende 1916 zur Grundausbildung ein.

Man kann annehmen, dass die Ausbildung - zuerst zwei Monate in Osnabrück, dann, im Frühjahr 1917, in der Lüneburger Heide - so abläuft, wie Remarque es in "Im Westen nichts Neues" schildert: roh, stumpfsinnig, schikanös. Die Unteroffiziere schleifen die jungen Männer ohne Gnade, die jungen Akademiker müssen entsetzt einsehen, "dass ein geputzter Knopf mehr wert ist als vier Bände Schopenhauer", dass der freie Geist nichts zählt, der dumpfe Drill alles.

"Wir wurden hart, misstrauisch, mitleidlos, rachsüchtig, roh"

In "Im Westen nichts Neues" gewinnt Remarque der Schinderei allerdings auch etwas Nützliches ab: "Wir wurden hart, misstrauisch, mitleidlos, rachsüchtig, roh - und das war gut", schreibt er. Hätte man die Rekruten gleich in die Schützengräben geschickt, "dann wären wohl die meisten von uns verrückt geworden".

Im Juni 1917 wird Remarque zusammen mit einigen Schulkameraden nach Nordfrankreich an die Front verlegt. Mit dabei ist sein Freund Georg Middendorf, der die nächsten Wochen mit Remarque verbringt und die gemeinsame Frontzeit in seinem Tagebuch beschreibt. Die Rekruten sind der 2. Garde-Reserve-Division zugeteilt, die dringend neue Soldaten braucht: Die Division hat gerade die schwere Frühjahrsschlacht bei Arras mitgemacht und wird danach bei Kämpfen im Artois eingesetzt. Remarque kommt am 14. Juni 1917 bei der Division an und wird ins Feldrekrutendepot in dem Ort Hem-Lenglet gesteckt.

Die Feldrekrutendepots sind Lager hinter der Front, in denen die Divisionen versuchen, ihre neuen Rekruten durch erfahrene Ausbilder für den erbarmungslosen Einsatz im Schützengraben tauglich zu machen. Für Remarque und seine Kameraden geht vorerst der Drill weiter: "Gestern abend machten wir von 10 bis ½3 Uhr die erste Nachtübung. In dem kreideweichen Boden des Übungsplatzes besetzen wir einen Schützengraben", notiert Middendorf.

Remarque hat nach dem Erscheinen von "Im Westen nichts Neues" behauptet, er habe alles darin Geschilderte selbst erlebt. Das ist sicher falsch. Als junger Rekrut war er kaum sechs Wochen im Frontgebiet, von Mitte Juni 1917 bis zu seiner Verwundung am 31. Juli.

Die gesamte Zeit über war er der 2. Kompanie des Feldrekrutendepots seiner Division zugeteilt, nicht einer kämpfenden Einheit. Die Sturmangriffe, das Gemetzel zwischen den Gräben, die Nahkämpfe, die Nacht im Granattrichter mit dem erstochenen Franzosen - all jene erschütternden Kriegsszenen, die Remarque in seinem Buch beschreibt, hat er nie erlebt.

Auch mit Paul Bäumer, Hauptfigur und Erzähler in "Im Westen nichts Neues", hat der Musketier Remark wohl nur wenig gemeinsam. Bäumer ist innerlich zerstört, ein Verlorener, dessen Seele der Krieg zerfetzt hat. Äußerlich jedoch ist er - gerade 20, aber seit zwei Jahren Soldat - ein gerissener Krieger, der alle Kniffe kennt, ob es darum geht, Pferdefleisch zu braten, einen Gasangriff zu überleben oder einen Schützengraben mit Handgranaten zu stürmen.

Remarque hingegen gleicht, als er mit 19 an die Front kommt, vermutlich eher einem jener ahnungslosen Rekruten, die er in seinem Roman beschreibt - schlecht ernährte "Steckrübengesichter", um deren schmale Schultern die Uniform schlottert: "Wir bekommen Ersatz. Zum Teil sind es alte Leute, aber auch fünfundzwanzig Mann junger Ersatz aus den Feldrekrutendepots werden uns überwiesen. Kropp stößt mich an: ,Hast du die Kinder gesehen?'."

Der Stärke von "Im Westen nichts Neues" tut die begrenzte Kampferfahrung des Autors freilich keinen Abbruch. Der - wie Remarque ihn nannte - "Landsknecht" Ernst Jünger saß fast vier Jahre im Schützengraben und konnte dem Töten und Sterben danach immer noch etwas Erhebendes abgewinnen. Remarque hingegen wurde nach ein paar Wochen an der Front zum Pazifisten. Was er dort und später im Lazarett erlebte, reichte ihm, um das bis heute vielleicht wichtigste Buch gegen den Krieg zu schreiben - gegen jeden Krieg.

In Frankreich bleibt Remarque nur kurz. Am 26. Juni 1917 werden die Rekruten nach Norden verfrachtet, nach Flandern, wo der Rest der Division bereits ist. In Houthulst, nordöstlich von Ypern, werden sie in Holzbaracken untergebracht.

In Flandern, im Westen Belgiens, fanden einige der härtesten Schlachten des Weltkriegs statt. Die Gegend ist flach, der Grundwasserspiegel liegt hoch, der Boden ist lehmig und schwer, durchzogen von Bächen, Kanälen und Flüsschen. Bei den Gefechten werden die Entwässerungsgräben zerstört, wenn es regnet, versinkt alles in zähem Schlamm.

Die Schützengräben, die ohnehin dauernd voll Wasser stehen, zerfließen, Unterstände überfluten, Verwundete ertrinken in schmierigen Granattrichtern. Otto Dix, der dort im Weltkrieg kämpfte, hat ein Bild gemalt, das "Flandern" heißt: In einer apokalyptischen Morastlandschaft hockt ein deutscher Soldat, zusammengesunken wie ein Haufen Dreck.

"Schreckliche Verwundungen, Wunden wie Kindsköpfe so groß"

Als Remarque und seine Kameraden in Flandern ankommen, brennt die Front. Anfang Juni 1917 hat die britische Armee nach einem gewaltigen Trommelfeuer die deutschen Stellungen am Wytschaete-Bogen, einem Frontvorsprung südlich von Ypern, überrannt. Die Deutschen vermuten nach dieser Attacke, dass ein größerer britischer Angriff in Flandern bevorsteht. Sie bauen daher einige Kilometer hinter der Front Abwehrstellungen aus, die einen Durchbruch verhindern sollen.

Bei diesen Schanzarbeiten werden Remarque und die anderen Rekruten aus dem Depot eingesetzt, vermutlich an der "Flandern-II-Stellung", einem von mehreren Sperrriegeln, welche die Deutschen von Norden nach Süden ziehen. Was Middendorf über die Arbeit schreibt, ähnelt sehr einigen Szenen aus "Im Westen nichts Neues":

Die Männer werden mit Lastwagen zu einem Pionierpark gefahren, dort laden sie sich Stacheldraht und Eisenpfähle auf und bauen vor den neuen Stellungen Drahthindernisse. Die Pfähle werden in den Boden gedreht, der Draht wird kreuz und quer dazwischen gespannt. Solche Stacheldrahtverhaue sind wichtig: Sie halten anstürmende feindliche Infanteristen in Schussweite der eigenen Maschinengewehre auf.

"Geschosse sausen herüber und hinüber"

Ab und zu regnet es, und die Männer lernen den flandrischen Schlamm kennen: "Sofort sind die lehmigen Wege ein Matsch & Morast, die Stiefel können sich kaum an den Füßen halten", schreibt Middendorf.

Zwar liegt die Flandern-II-Stellung etliche Kilometer hinter der Front, doch die britischen Geschütze beschießen das gesamte Hinterland. Das starke Artilleriefeuer ist Teil der Vorbereitung der Großoffensive, welche die Briten planen und die zur "Dritten Flandernschlacht" werden wird. Middendorf notiert: "Geschosse sausen herüber und hinüber. An den Stellungen vor uns leuchten Kugeln auf. Rot, grün und gelb blitzt es durcheinander, erleuchtet für Sekunden das Nachtdunkel taghell. Vor uns und hinter uns schlagen pfeifend, heulend, zischend die todbringenden Geschosse ein, wir bleiben vom Feuer verschont."

Doch der Schanztrupp hat nicht immer Glück. Mehrmals wird während der Arbeit Gasalarm gegeben, immer wieder geraten Remarque und seine Kameraden unter Artilleriebeschuss. Am 17. Juli vermerkt Middendorf in seinem Tagebuch die ersten drei Verwundeten. Acht Tage später, am 25. Juli: "Ein schwarzer Tag. Wiederum beschießt uns der Engländer, leider mit Erfolg. Durch einen Granatschuß 1 Toter, Herkens, und 5 Verwundete: Kohlrautz, Bauchschuß, der liebe, kleine Troske, Splitter in Stirnhöhle, Ferse, Wiemann, Oberschenkel, Müller, Rücken, Dethlefs, Kopf. Abends erhält Kranzbühler Knieschuß."

Theodor Troske ist ein guter Freund von Remarque aus Osnabrück. In einigen Remarque-Biografien heißt es, dieser habe den Schwerverletzten auf dem Rücken "aus dem Feuer nach hinten" geschleppt. Belegen lässt sich das aber nicht. Troske stirbt einige Tage später. Der Beschuss von Houthulst wird schließlich so stark, dass die Rekruten das Dorf verlassen müssen.

Am 31. Juli 1917, dem ersten Tag des britischen Großangriffs, wird Remarque dann selbst durch Granatsplitter verwundet. "Wieder mal Pech!", schreibt Middendorf. "Auf dem Wege zum beschossenen Handzaeme, wo wir arbeiten sollen, erhalten wir, wie bis jetzt bekannt, 6 Verwundete, darunter auch mein lieber Remark. Er erhält Verwundung über dem rechten Hand- und dem linken Kniegelenk. Nachdem wir die gefährlichste Ecke durchlaufen, lege ich ihm in einem Unterstande Notverband an." Remarque kommt zunächst in ein Feldlazarett in Torhout, im August 1917 wird er ins St.-Vincenz-Hospital in Duisburg verlegt. Seine Zeit an der Front ist vorbei.

Die Dritte Flandernschlacht tobt noch bis November 1917. Die Briten kommen ein paar Kilometer voran, dann bleiben sie im Schlamm und in den starken deutschen Abwehrstellungen stecken, an denen Remarque mitgeschanzt hat. Am Ende sind 72 000 britische und deutsche Soldaten tot, 62 000 weitere werden vermisst.

"Ich hatte auch einen Halsschuss"

Es ist nicht ganz klar, wie schwer Remarque tatsächlich verwundet ist. Middendorf hält die "Verletzungen nicht für schwer". Remarque selbst schreibt am Tag nach seiner Verwundung an den Freund: "Ich habe fast nichts abgekriegt, ganz leichte Verwundungen, keine Schmerzen."

Ende September berichtet er Middendorf hingegen aus Duisburg: "Mit meinen Wunden wird es wohl noch etwas dauern, sie heilen schlecht. Das weißt du noch nicht: Ich hatte auch einen Halsschuss." Immerhin scheinen die Verletzungen leicht genug zu sein, dass Remarque in Duisburg nach einiger Zeit als Lazarettschreiber arbeiten kann.

Remarque hat es nicht eilig, diesen bequemen Posten wieder zu verlassen. Er redet viel mit den Soldaten, er hört die Geschichten von der Front. Jene Teile von "Im Westen nichts Neues", die er nicht selbst erlebt hat, sammelt er sich wohl in diesen Monaten im Lazarett zusammen. Und jeden Tag bekommt er die Folgen der Kämpfe zu sehen. "Wir haben hier vor kurzem einen Lazarettzug von Cambrai bekommen", schreibt er im Januar 1918 an Middendorf. "Die Kerle klagen auch sehr über Kälte und Eis an der Front. Schreckliche Verwundungen waren dabei, Amputationen, Wunden wie Kindsköpfe so groß, Knochenschüsse u. Ähnliches."

In "Im Westen nichts Neues", in dem er seine Verwundung und die Zeit im Hospital sehr wahrheitsgetreu schildert, schreibt Remarque später: "Erst das Lazarett zeigt, was Krieg ist."

Remarque bleibt bis zum 31. Oktober 1918 in dem Hospital in Duisburg. Bevor er zurück an die Front geschickt werden kann, ist der Krieg aus. Mitte November bekommt er noch unter etwas unklaren Umständen das Eiserne Kreuz 1. Klasse verliehen, einen Tapferkeitsorden. Am 5. Januar 1919 wird der Musketier Erich Remark aus dem preußischen Heer entlassen.

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