Erich Honecker und der Mauerfall:Vollkommen entrückter Generalsekretär

Erich Honecker ließ die Mauer bauen, die DDR war sein Lebenswerk - doch zuletzt wirkte er selbst wie eingemauert.

Renate Meinhof

Der Anruf kommt so unerwartet, dass der Angerufene noch einmal nachhaken muss. "Was bitte wollen Sie von mir?", fragt Curt Stauss, Pastor in Lauchhammer in der Niederlausitz. Es ist der Nachmittag des 6. Oktober 1989. Ein Herr von der Abteilung Inneres beim Rat des Bezirkes Cottbus ruft im Pfarrhaus an. Ob er, Stauss, heute Abend fernsehen werde. "Ja, warum?", fragt Stauss. Ob er sich, bitte, Erich Honeckers Rede zum 40. Jahrestag der Gründung der DDR ansehen könne.

Erich Honecker und der Mauerfall: Erich Honecker bei den Feierlichkeiten anlässlich des 40. Jahrestags der DDR am 7. Oktober 1989.

Erich Honecker bei den Feierlichkeiten anlässlich des 40. Jahrestags der DDR am 7. Oktober 1989.

(Foto: Foto: AP)

"Warum?", fragt Stauss. Man sei sich nicht sicher über die "tatsächliche Stimmung in der Bevölkerung", sagt die Stimme am Telefon. Man wolle deshalb Menschen nach ihrer Meinung zur Rede des Genossen Generalsekretär fragen. Menschen, von denen man in der Abteilung Inneres annahm, dass sie sich trauten, die Wahrheit zu sagen. Curt Stauss zählte zu diesen Menschen, und deshalb rief die Stimme aus dem Inneren tatsächlich noch einmal an, als die Rede vorbei war, am späten Abend. Der Pastor sagte, was er über Erich Honeckers Rede dachte, zu diesem einen Satz, der die Unzufriedenheit im Land endgültig in Wut verwandelte...

Seltsamer Anruf am Spätabend der Diktatur

Als der kleine deutsche Staat noch nach allen Regeln der Diktatur funktionierte, wäre ein solcher Anruf undenkbar gewesen. Im Herbst 1989 aber hatte die Entfremdung zwischen Volk und Führung Formen angenommen, die Einzelne in der Partei offenbar veranlasste, zu ungewöhnlichen Maßnahmen zu greifen.

Der Anruf bei einem Pastor war eine ungewöhnliche Maßnahme. Man kann sie nur aus einer tiefen Verunsicherung heraus verstehen, der Schockstarre des Parteiapparats im Jahr 1989. Tausende Menschen demonstrierten auf der Straße oder waren auf der Flucht, und Michail Gorbatschow hatte seinen Bündnisbruder Honecker schon abgeschrieben.

Das Lebenswerk musste noch eimal strahlen

Aber war der Staatsratsvorsitzende Erich Honecker selbst verunsichert, oder befand er sich längst in einem Zustand der Entrücktheit, der Menschen manchmal zu Hilfe kommt, wenn sie ahnen, dass ihr Ende nahe ist? Honecker muss sein doppeltes Ende gespürt haben: das physische, dem der Atheist kein weichzeichnendes Jenseits entgegensetzen konnte. Und das Ende seiner Macht, das er nicht verhindern, das er aber wenigstens mit einer Festrede krönen konnte.

Sein Lebenswerk musste noch einmal strahlen dürfen. Aus diesem Wunsch heraus redete Honecker am Vorabend des "Republikgeburtstages" an allen Realitäten und Erwartungen vorbei. Es war seine letzte große Rede. Er hatte Krebs. Ein Mann, der ihm nahe war, beschreibt ihn als "weich und milde" in diesen Herbstwochen, aber auch "noch verschlossener als ohnehin schon".

Frank-Joachim Herrmann hat das zu Protokoll gegeben. Er war gut 20 Jahre lang Honeckers Eckermann, der Sekretär des Generalsekretärs. Auch für die Rede zum 40. Jahrestag arbeitete er seinem Dienstherrn zu, besuchte ihn sogar zu Hause, Haus Nr. 11 in der Waldsiedlung Wandlitz, nördlich von Berlin. Honecker wollte es so.

Er war allein. Er kochte Kaffee, servierte ihn im Obergeschoss. Bemerkte, dass er die Löffel vergessen hatte. Ließ sich nicht helfen, ging wieder runter in die Küche, die Löffel zu holen. Nein, ohne Löffel kein Kaffee. "Es hat mich gerührt", sagte Herrmann, "wie wichtig er das alles nahm." Etwas Väterliches sei von ihm ausgegangen.

"Er begriff gar nicht, was im Land los war"

Die Hausangestellte Ulrike Hainke, Jahrgang 1940, die bei Honeckers in Wandlitz arbeitete, beschrieb später in einem Buch den Zustand des Staatsratsvorsitzenden im Jahr 1989 mit folgenden Worten: "Wenn er früh herunterkam, mit Schlafanzug und Latschen ... da dachte ich manchmal: ,Oh Gott, du armer alter Mann, du weißt bestimmt nicht mehr, was du regieren sollst, oder das machen längst andere.' Ich glaube, er begriff gar nicht, was im Land wirklich los war."

Am Ende wurde Honecker zur tragischen Figur. Von der Krankheit gezeichnet, von seinen Genossen verstoßen. Ein Heimatloser, der ausgerechnet das Asyl der Kirche in Anspruch nehmen musste, als er mit seiner Frau Margot bei Pastor Uwe Holmer und dessen Familie in Lobetal bei Berlin in zwei Dachkammern zog. Die Siedlung Wandlitz war am 1. Februar 1990 aufgelöst worden.

Holmers handelten im Geist christlicher Versöhnung und Vergebung. Von ihren zehn Kindern hatte keines, trotz bester Zensuren, Abitur machen dürfen. Margot Honecker war als Volksbildungsministerin auch dafür verantwortlich gewesen, dass Pastorenkinder systematisch benachteiligt wurden. Draußen, vorm Pfarrhaus, demonstrierten Menschen voller Wut. Frau Holmer stand am Zaun, wollte schlichten. Sie riefen: "Keine Gnade für Honecker!" Drinnen wischte Margot die Treppe.

Dann wurde ihr Mann vor der 27. Strafkammer des Berliner Landgerichts angeklagt, wegen der Todesschüsse an der Mauer. Ein Staatschef als Totschläger? Der Prozess war, so schrieb Thomas Darnstädt damals im Spiegel, ein "Experiment, die moralische und politische Schuld eines Staatsmannes unter die Normen des Strafrechts zu bringen".

Am 12.Januar 1993 musste das Verfahren gegen Honecker eingestellt werden. Der psychiatrische Sachverständige Werner E. Platz schrieb in seinem letzten Bericht, dass "Herr H. weder jetzt noch künftig ... als verhandlungs- und haftfähig anzusehen ist."

"Ich hätte das mit Kohl nicht gemacht"

In einem Gespräch mit Platz hatte Honecker einmal gesagt: "Ich hätte das mit Kohl nicht gemacht." Wenn der Sozialismus über den Kapitalismus gesiegt hätte, das wollte Honecker damit zum Ausdruck bringen, hätte er Helmut Kohl nicht festnehmen und einsperren lassen. Und gegenüber seinem Anwalt klagte er im Haftkrankenhaus Rummelsburg: "So schlimm sind nicht einmal die Faschisten mit mir umgegangen."

Von der Weltbühne in den Abgrund

Am 13. Januar 1993 bestieg Honecker mit fünf Kamerateams die Boeing 747 der brasilianischen Luftfahrtgesellschaft Varig, die kurz vor Mitternacht in Frankfurt abhob. Die letzte Reise. Das Ziel war Chile. Margot wartete dort, und 150 Menschen auf Santiagos Flughafen, die mit DDR-Fähnchen winkten.

Erich Honecker und der Mauerfall: Noch heute feiert Margot Honecker gerne die Gründung der DDR.

Noch heute feiert Margot Honecker gerne die Gründung der DDR.

(Foto: Foto: AP)

Honecker schritt aufrecht die Stufen hinunter, wie ein Staatschef im Amt. Dann war der Mann, der seit 1971 mit großer Machtfülle und dem perfekt funktionierenden Staatssicherheitsapparat 17 Millionen Menschen in der Hand gehabt und indirekt auch in die Schicksale vieler Westdeutscher eingegriffen hatte, verschwunden.

Betoniertes Gesicht, obertonige Stimme

Was ist geblieben von Erich Honecker in der Erinnerung von Ostdeutschen? Das betonierte Gesicht, der starre Gang. Die gepresste obertonige Stimme. Das sagen alle, die man fragt. Sie hatte nichts Souveränes, diese Stimme. Sie sprach von den "Feinden des Sozialismus", von der "Überlegenheit des Sozialismus gegenüber dem Kapitalismus". Worte, die er, der rhetorisch Unbegabte, nuschelnd zusammenzog, sodass es klang wie "kaptalisch" und "sozialisch" und "Deusche Demkrasche Reblik".

Sie war sein Lebenswerk, diese DDR. Unter Walter Ulbricht im Westen geächtet, führte Honecker sie auf die Weltbühne und dann in den wirtschaftlichen Abgrund. "In politischer Ökonomie", sagte er 1974 zu Gerhard Schürer, dem Leiter der Staatlichen Plankommission, "macht mir keiner was vor."

"Den Sozialismus in seinem Lauf ..."

Noch am 14. August 1989 in Erfurt, als er das Musterexemplar eines 32-Bit-Mikroprozessors aus dem VEB Kombinat Mikroelektronik "Karl Marx" entgegennahm, lobte er die Vorzüge des Sozialismus mit dem Satz des einstigen SPD-Führers August Bebel: "Den Sozialismus in seinem Lauf hält weder Ochs noch Esel auf."

Honecker war es, der die DDR einmauerte, der den "antifaschistischen Schutzwall" bauen ließ. Das Land, das die Menschen flohen, sollte nicht länger ausbluten. Dafür nahm er in Kauf, dass diejenigen, die das Land illegal verlassen wollten, am "Schutzwall" verbluteten. An der Berliner Mauer und der innerdeutschen Grenze starben bis 1989 fast eintausend Menschen.

Der gründlichste Grenzer

Honecker war immer der gründlichste Grenzer. Er wachte sogar über die Gestaltung des Todesstreifens. Er ließ sich von Verteidigungsminister Heinz Hoffmann Muster der neuen Grenzschilder mit dem DDR-Emblem zeigen, "die im Vergleich zu den derzeitigen Staatswappenschildern aus Sprelacart wesentlich repräsentativer wirken".

Als Vorsitzender des Nationalen Verteidigungsrates präzisierte er schließlich den bis dahin gängigen Gebrauch der Schusswaffen an der Grenze mit den Worten, die als der "Schießbefehl" in die Geschichte eingegangen sind. "Nach wie vor", hieß es, "muss bei Grenzdurchbruchsversuchen von der Schusswaffe rücksichtslos Gebrauch gemacht werden, und es sind die Genossen, die die Schusswaffe erfolgreich angewandt haben, zu belobigen."

"Was ist das für ein Sozialismus", fragte der ostdeutsche Schriftsteller Stefan Heym, "der sich einmauern muss, damit ihm sein Volk nicht davonläuft?"

Margot ist geblieben

Was bleibt von Erich Honecker? Margot ist geblieben, seine Frau seit 1953. Sie benutzte stets eine ins Bläuliche driftende Haartönung, und wenn man von Honecker sagen kann, dass er nicht beliebt war, so muss man zu seiner Frau bemerken, dass sie bei einem Großteil der Bevölkerung gefürchtet, ja verhasst war. Frank-Joachim Herrmann, Honeckers Sekretär, beschrieb sie als eine Frau, die immer Wert darauf legte, "nicht als protokollarische First Lady, sondern als selbständige Persönlichkeit mit eigenen Aufgaben angesehen zu werden."

Seit 1964 war sie Ministerin für Volksbildung. Sie machte sich zur Aufgabe, das "sozialistische Bildungssystem" aufzubauen, das vor allem Arbeiter- und Bauernkinder förderte. Sie war es, die 1978 gegen den Widerstand der Kirchen den Wehrkundeunterricht einführte.

Wer sich als 15-Jähriger weigerte, an den Schießübungen der vormilitärischen Ausbildung teilzunehmen, fällte mit der Weigerung eine Lebensentscheidung. Sein Bildungsweg wurde gekappt für immer, oder, oft auf brutale Weise, umgeleitet. Wer nicht in die FDJ eintrat, wer Christ war oder gar den Aufnäher der Friedensbewegung "Schwerter zu Pflugscharen" trug, konnte als Kind schon zum Dissidenten gestempelt werden.

Nie zur Verantwortung gezogen

Ohne Margot Honecker hätte es im weit gefächerten System der Entschädigungszahlungen für die Opfer der Diktatur nicht die Kategorie "Verfolgter Schüler" geben müssen. Vor einem Gericht wurde sie nie zur Verantwortung gezogen. Sie lebt in Chile. Gerade hat sie sich in einer Videobotschaft, stehend vor einer DDR-Fahne, zu Wort gemeldet. "Immerhin", hat sie gesagt, "40 Jahre waren wir da, und wir haben Spuren hinterlassen".

"Ihr Einfluss war immer groß", sagte Herrmann, der Sekretär, als er nach dem Verhältnis zwischen den Honeckers gefragt wurde. "Die Widersprüche zu Hause, Widersprüche in jeder Bedeutung des Wortes, haben ihm (Honecker) seine Arbeit gewiss nicht erleichtert."

Aber sie fuhren gemeinsam in den Urlaub. Wenn Honeckers mit ihren Enkeln verreisten, dann im Sommer oft auf die kleine und für Normalbürger nicht betretbare Insel Vilm im Greifswalder Bodden. Sie wurde zur Festungsinsel, wenn die Honeckers kamen, oder die Stophs und die Sindermanns.

In den Orten, die die Gäste in Richtung Hafen passierten, gab es plötzlich Farbe für die traurigsten Gebäude, flüchtig getünchte Farbe, und nur auf Sichthöhe der Autoscheiben. Manchmal wollten die Stophs und die Sindermanns und die Honeckers Musik auf ihrer Ferieninsel. Klassische Musik, ein Kammerkonzert zum Beispiel.

Dann fuhr man vier, fünf Jugendliche heran, die am Rostocker Konservatorium Geige lernten, oder Cello und Oboe. Sie spielten einige Stücke. Die Feriengäste klatschten, und niemand wollte in die schönen Töne hinein fragen, ob es auch Arbeiter- und Bauernkinder waren, die da musizierten, oder die Kinder der Intelligenz.

"Wir weinen niemandem eine Träne nach"

Spätabends klingelte im Pfarrhaus von Lauchhammer das Telefon. "Und? Was sagen Sie zu der Rede des Genossen Generalsekretär", fragte die Stimme aus der Abteilung Inneres des Bezirks Cottbus. "Ein Satz hat sich mir besonders eingeprägt", antwortete Pastor Stauss. "Wir weinen niemandem eine Träne nach, der das Land verlassen will." Am anderen Ende der Leitung knisterte ein Schweigen. "Wenn der Staatsratsvorsitzende so über die Menschen und die Situation dieses Landes denkt, dann hat das Land keine Zukunft mehr."

Die Stimme aus dem Inneren bedankte sich und hängte ein.

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