Erdogans Wahlsieg:Volkstribun mit gestutzten Flügeln

Tayyip Erdogan hat mit seinem Wahlsieg einen Rekord gebrochen. Doch die Türken haben ihm diesen Sieg nicht geschenkt, weil er frommer Muslim ist, sondern weil er ihnen ein besseres Leben beschert. Das Paradoxe dabei: Es ist ein Triumph, der Erdogan gleichzeitig die Flügel stutzt.

Kai Strittmatter

Tayyip Erdogan hat wieder einmal einen Rekord gebrochen. Drei Mal hintereinander die absolute Mehrheit im Parlament zu gewinnen, und dabei jedes Mal den Stimmenanteil noch zu steigern - das hat seit Abschaffung des Einparteienstaates vor mehr als 60 Jahren noch kein türkischer Premier geschafft.

Es ist ein Triumph für den Mann, der sich so gern als Volkstribun inszeniert, für den Premier, der sein Land so umgekrempelt hat wie kaum ein anderer seit Republikgründer Atatürk. Das Paradoxe dabei: Es ist ein Triumph, der Erdogan gleichzeitig die Flügel stutzt. Die Türken haben ihm die Zweidrittel-Mehrheit versagt, die er sich erhoffte. Jene Mehrheit, mit der seine AKP im Alleingang eine neue Verfassung hätte verabschieden können, mit der Erdogan sich ein Präsidialsystem auf den Leib hätte schneidern können. Angesichts seiner zunehmenden Selbstherrlichkeit ist das ein Segen.

Überhaupt darf man die Türken beglückwünschen dazu, wie weit sie ihre Demokratie in den letzten Jahrzehnten getragen haben und wie sehr sie ihnen am Herzen liegt. Die Wahlbeteiligung lag bei erstaunlichen 84 Prozent. Erneut hat sich das Volk für Stabilität entschieden. Kurdische Politiker durften erstmals in ihrer Muttersprache Wahlkampf machen. 78 Frauen ziehen ein ins 550 Mitglieder starke Parlament, so viele wie noch nie.

Anders als noch vor vier Jahren spielten ideologische Grabenkämpfe nur mehr eine untergeordnete Rolle: Erdogan will die Türkei in einen Gottesstaat verwandeln? Den Vorwurf, der in manchen Zirkeln in Europa nicht totzukriegen ist, haben Erdogans türkische Gegner längst still und heimlich zu Grabe getragen: Es nimmt ihnen schon lange keiner mehr ab.

Die Türken sind Pragmatiker bis ins Mark. Sie haben Erdogan diesen Sieg geschenkt, nicht weil er ein frommer Muslim ist, sondern schlicht, weil er ihnen ein besseres Leben geschenkt hat: Mehr als acht Prozent Wachstum im letzten Jahr - nur China wuchs schneller. Und freier wurde die Türkei dazu. Und dennoch steht sie an einem Scheideweg. Die Demokratie ist noch nicht gefestigt, alles Erreichte steht auf wackeligen Beinen, solange der Rahmen morsch ist. Die Türkei braucht dringend eine neue Verfassung, sie braucht dringend echte Aussöhnung mit den Kurden, sie braucht dringend neues Engagement im EU-Beitrittsprozess. Die Verantwortung für alle Parteien ist groß. Das Land braucht den Konsens.

Erdogan muss nun die Hand ausstrecken - und die Opposition, die die letzten Jahre nur auf Sabotage aus war, muss in diese Hand auch einschlagen. Der Triumph Erdogans zeigt nicht bloß, wie sehr ihn das Volk für das Erreichte belohnen möchte, es zeigt auch, wie sehr es noch immer dieser Opposition misstraut.

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