Erdoğan:Europa erwacht aus dem Pragmatismus gegenüber der Türkei

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Tausende demonstrieren in den Tagen nach dem Putschversuch in Istanbul für Präsident Erdoğan. (Foto: AFP)

Die EU schaute über viele Zumutungen Erdoğans hinweg, weil sie den Flüchtlingen ohnmächtig gegenüberstand. Doch nun, da er die Demokratie endgültig demoliert, muss Europa ihm Grenzen setzen.

Kommentar von Daniel Brössler

In den vergangenen Monaten ließ sich die oberste Maxime europäischer Türkei-Politik auf eine einfache Formel bringen: Es ging darum, den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan bei Laune zu halten. Die Union ließ sich ein auf eine inhaltlich unsinnige Verknüpfung der Flüchtlingskrise mit der Visumfreiheit für Türken und dem Beitrittsprozess. Die Wertegemeinschaft EU trieb den Pragmatismus zum Äußersten, um die Zahl der über die Ägäis kommenden Migranten zu senken. Das ist gelungen. Dennoch ist der Deal in seiner Gesamtheit nach dem Putschversuch so gut wie erledigt - und die EU steht vor der Frage, ob ihr Pragmatismus womöglich gar keiner war.

Zur Vorgeschichte des Abkommens mit der Türkei gehört das quälende Gefühl europäischer Ohnmacht. Unfähig, sich auf eine gerechte Verteilung der Lasten in der Flüchtlingskrise zu einigen und die eigenen Grenzen wirksam zu überwachen, erbat die EU die Hilfe der Türkei. Äußerst sinnvolle und praktische Regelungen zur Entlastung der Türkei wurden verwoben mit der Fiktion, die Annäherung des Landes an die EU sei nur eine Frage des effizienteren Verhandelns.

Schon vor dem Putschversuch wussten es die Europäer besser. Sie kannten Erdoğan bereits als Verächter freier Medien und Totengräber echter Opposition. Aus Angst und Schwäche haben sie darüber hinweggesehen. Nun können sie das nicht mehr.

Mit der Abschaffung der Todesstrafe begann der Weg der Türkei in die EU

Erdoğans maßlose und willkürliche Antwort auf den Putschversuch - und keineswegs nur die Drohung mit der Rückkehr zur Todesstrafe - führt die Beitrittsverhandlungen, die doch belebt werden sollten, ad absurdum. Für den Fall, dass er die Todesstrafe durchsetzt, lässt Erdoğan der EU gar keine andere Wahl, als diese Verhandlungen auszusetzen. Mit der Abschaffung der Todesstrafe begann der ernsthafte Weg der Türkei in die EU, mit ihrer Wiedereinführung wäre er gestoppt.

Dies kann aber nicht die einzige rote Linie sein. Was passiert, wenn Erdoğan vor dem äußersten Mittel zurückschreckt, ansonsten aber zur angeblichen Rettung der Demokratie die Demokratie ganz abschafft? Geben sich die Europäer damit zufrieden? Das ergäbe ein jämmerliches Bild, das Erdoğan nur darin bestärken würde, am längeren Hebel zu sitzen. Tut er das?

Die Europäische Union verfolgt in der Türkei zwei Ziele. Erstens soll ihr Schlüsselpartner in der derzeit gefährlichsten Region der Welt stabil bleiben, ohne in ein autoritäres System abzurutschen. Zweitens soll die Migrationsroute über die Ägäis versperrt bleiben. Von Erdoğan werden die Europäer hören, dass sie sich aus dem einen herauszuhalten haben, um das andere nicht zu gefährden. Es wird nun darauf ankommen, ob die EU das selbst glaubt.

Die Türkei braucht ihre westlichen Verbündeten im Kampf gegen den Terror

Es ist eben nicht pragmatisch, einem Machtmenschen vom Schlage Erdoğans das Gefühl freier Hand zu geben. Notfalls müssen ihm stattdessen die wirtschaftlichen Kräfteverhältnisse deutlich gemacht werden. Außenminister Frank-Walter Steinmeier hat überdies recht, wenn er dem türkischen Präsidenten den Blick auf eine Landkarte empfiehlt. Die Türkei braucht ihre westlichen Verbündeten im Kampf gegen den islamistischen Terror mindestens so sehr, wie dies umgekehrt der Fall ist. Auch wenn das in der nicht nur vom Brexit-Votum angeschlagenen EU fast verrückt klingt: Europa muss endlich wieder selbstbewusst auftreten.

Wenn Erdoğan selbst die EU-Annäherung torpediert, kann das nicht als Vorwand dafür akzeptiert werden, Menschen erneut auf die gefährliche Reise über die Ägäis ziehen zu lassen. Sollte die Zahl der in Griechenland ankommenden Flüchtlinge nun wieder drastisch ansteigen, würde das den türkischen Präsidenten als Schleuser entlarven. Er wird entscheiden müssen, ob er dieses Risiko eingeht.

© SZ vom 20.07.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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