Erderwärmung:Wohin mit den Klimaflüchtlingen?

Famine claims lives of more than 100 children in Tharparkar

Auf den Westen könnten Millionen Klimaflüchtlinge zukommen

(Foto: Nadeem Khawer/dpa)

Die Katastrophe von Vanuatu ist Teil einer dramatischen Entwicklung: Der Klimawandel macht Millionen Menschen zu Flüchtlingen. Die reichen Länder müssen Verantwortung übernehmen.

Von Roland Preuß und Ronen Steinke

Von oben prasselt tropischer Regen nieder, von Süden her schwappen die Wellen ins Land. Die größte Stadt Afrikas, eine Metropole größer als Paris und London zusammen, wurde einst in einem Sumpfgebiet erbaut. An einer neblig-warmen Atlantikbucht. Heute gibt es in ihr mehr Kanäle als in Venedig, schwärmt der nigerianische Schriftsteller Chris Abani, "mit dem Unterschied, dass die meisten Kanäle hier einfach so entstanden sind: Abflüsse, die zu Wasserwegen wurden, Lagunen zwischen Pfahlhäusern, verstopft mit Baumstämmen für eine Holzindustrie, von der die meisten nicht einmal wissen, dass sie existiert. Alles wird mit Kanus transportiert, die sich geschickt wie Libellen durch die Kanäle bewegen."

Bis zum Ende dieses Jahrhunderts dürfte es hier still werden. In der Megastadt Lagos, in der heute 21 Millionen Nigerianer arbeiten, streiten, schlafen, lieben, wird das Hupen der unzähligen Autos verklungen, werden die Rufe der Muezzins verhallt sein.

Wenn reiche Länder Flüchtlinge aufnahmen, dann bislang nur aus Mitleid, nicht aus Schuldgefühl

Von dem "Kreischen von Stahl auf Stahl", das Abani als Melodie des Molochs beschreibt, wird man nichts mehr erahnen und nichts mehr von dem "Summen von Millionen Menschen, die versuchen, sich durch eine Stadt zu quetschen, die viel zu klein für sie alle ist". Über ihrer Heimat wird sich das Meer breitgemacht haben. Ebenso wie auf schätzungsweise der halben Fläche des Staates Bangladesch mit seinen gut 150 Millionen Einwohnern, östlich von Indien.

Schätzungsweise? Dies ist nicht ein Worst-Case-Szenario aus den Laptops der Klima-Apokalyptiker, und es ist auch kein Zerrbild aus den Broschüren von NGO-Leuten, die manchmal lauter Alarm schlagen, als es der Forschungsstand erlaubt. Sondern es ist die Botschaft des jüngsten UN-Klimaberichts. Der gilt als eher zurückhaltend. Der Meeresspiegel wird um einen Meter ansteigen bis zum Jahr 2100. Wenn die derzeitige Treibhausgas-Orgie nicht radikal abnimmt.

In Europa fällt es leicht, den Klimawandel vor allem als ein Problem des Naturschutzes zu sehen - gefährlich für Eisbären, denen die Schollen wegschmelzen, nicht so sehr für Menschen. Hitzewellen im Sommer, grüne Weihnachten, für Mitteleuropäer ist das nur lästig. Oder sogar attraktiv: Der Frühling verdrängt den Frost, der Bodensee könnte aufblühen wie ein neuer Lago Maggiore mit Zypressen und Orangenbäumen. Die Katastrophen passieren derweil woanders, im Pazifik, wo ganze Inselgruppen untergehen. Oder wie in diesen Tagen im Südseestaat Vanuatu: Der Zyklon Pam war dort der gewaltigste seit Menschengedenken. Nicht einer der gewaltigsten, der Gewaltigste: Mehr als 100 000 der 270 000 Einwohner verloren ihr Zuhause, es fehlt nun an sauberem Wasser, es drohen Malaria und Dengue-Fieber. Der Präsident des Staates, Gavin Lonsdale, sagt, dies sei eine Folge des Klimawandels.

Glaubt man einer Reihe von Forschern, so war das erst ein Vorgeschmack auf die Völkerwanderung, die der Klimawandel noch auslösen dürfte. In Bangladesch zum Beispiel, dem Land von Ferdausur Rahman. Der Klimaaktivist und Chef der Bauern-Organisation Prodipan erlebt sie bereits: Seit 1987 kommt ein Zyklon nach dem anderen den Indischen Ozean herauf und vertreibt die Bauern. Rahman stapft dann durch die Reste von Bauernhütten, die Felder sind verwüstet oder vom Meer verschlungen. Er kann ganze Fotoserien von gefluteten Dörfern zeigen. Bislang können die Menschen in der Regel irgendwann zurück auf ihre Flecken, doch die Prognosen sagen: Das Wasser wird noch höher. "Wenn der Meeresspiegel um einen Meter steigt, dann müssen hier 35 Millionen Menschen umsiedeln", sagt er.

Umsiedeln. Das klingt so harmlos.

Für uns in Europa ist es ja so: Politisch konnte man bislang immer darüber diskutieren, inwieweit das Elend in Entwicklungsländern von den Industrieländern verschuldet ist - von der Gier der europäischen Trawler zum Beispiel, die das Wasser vor Westafrikas Küste leerfischen, oder vom blanken Irrsinn der EU-Agrarsubventionen - und ob die reichen Staaten deshalb verpflichtet sind, Flüchtlinge aufzunehmen. Die Frage ist nie einfach zu beantworten gewesen; mit Korruption und Misswirtschaft lähmten sich die armen Länder ja auch selbst. Die Regierungen der reichen Länder sind dieser moralischen Frage bis heute im Großen und Ganzen erfolgreich ausgewichen: Wenn sie Flüchtlinge aufnahmen, dann stets nur aus einem Gestus des Mitleids heraus, nie etwa aus Schuldgefühl. Mitleid ist nicht einklagbar. Wer Mitleid zeigt, der erwartet vielmehr Dank.

Im deutschen Grundgesetz steht in Artikel 16a der Satz: "Politisch Verfolgte genießen Asylrecht", aber was das heißt, darüber haben stets deutsche Richter und deutsche Beamte selbst entschieden. Kein Entwicklungsland der Welt konnte da mitreden oder gar Ansprüche stellen.

Wenn in der europäischen Politik über Flüchtlinge debattiert wurde, dann hat sich das stets auf die Kernfrage bringen lassen: Wie viel Mitleid wollen, wie viel können wir Europäer uns leisten? Und die Antwort darauf unterlag politischen Konjunkturen oder, positiv gewendet, dem Meinungswandel in einer Demokratie.

Man wird sich an einen neuen Gedanken gewöhnen müssen. Das, was in den kommenden Jahrzehnten aller Voraussicht nach an Flüchtlingsströmen entfesselt wird, daran tragen die reichsten Industrieländer (nebst China, Indien und Brasilien) fast die alleinige Schuld; die Belege dafür sind erdrückend. Deutschland steht in der Weltrangliste der CO₂-Sünder auf Platz 7. Das verändert das Verhältnis zu vielen der künftigen Flüchtlinge grundlegend.

"Egal wie man es dreht, die Leute haben ein Recht, in westlichen Staaten unterzukommen"

Bangladesch ist nur Teil eines Zukunftsszenarios, das im 21. Jahrhundert Überschwemmungen, Wirbelstürme, vorrückende Wüsten und Dürren bereithält. Selbst wenn die Flut das Land wieder freigibt, haben die Menschen auf den Philippinen, in Bangladesch und anderswo ein Problem: Böden und Grundwasser versalzen, die Ernten gehen zurück. Es trifft aber auch dicht besiedelte Megastädte auf Meereshöhe wie Alexandria oder Kalkutta. Für diesen Sommer sagen Klimaforscher wieder ein Überkochen der Natur voraus: den gigantischen warmen Ozeanstrudel El Niño. Verstärkt durch die Erderwärmung, dürfte er 2014 besonders heftig ausfallen. Der Strom lässt rund um den Pazifik regelmäßig die Felder verdorren, schon jetzt meldet die philippinische Regierung Ernteausfälle in Millionenhöhe.

Die Erderwärmung gefährdet weite Teile Afrikas, zum Beispiel die Felder Somalias und Äthiopiens, die verdorren und deshalb schon im Sommer 2012 Hunderttausende ins benachbarte Kenia trieben. 200 Millionen Menschen könnten bis zum Jahr 2050 zu Klimaflüchtlingen werden, allein durch den steigenden Meeresspiegel, Fluten und Dürren, sagt der ehemalige Weltbank-Chefökonom Nicholas Stern. Die Universität Columbia, die Internationale Organisation für Migration, sie alle kommen auf die gleiche Größenordnung.

"Kein Geldbetrag wird ausreichen, um den zugefügten Schaden zu beheben"

200 Millionen Menschen - das sind nur Prognosen, gewiss. Und die sagen auch: Die große Mehrheit der Klimaflüchtlinge wird in ihrem Heimatland oder im Nachbarstaat hängen bleiben. Dennoch ist klar, da kommt was auf die reichen Staaten zu - nicht nur wärmeres Wetter, sondern eine Flüchtlingswelle neuer Dimension. Selbst wenn es nur fünf Prozent dieser Flüchtlinge an Europas Grenzen schaffen sollten, geht es um zehn Millionen Menschen. Ein solcher Treck ließe den heutigen Zustrom wie einen Migranten-Kleinbus erscheinen. Der Klimawandel wird Menschen auf die Reise schicken, die an den EU-Grenzen rütteln. Und diese Menschen werden eine Forderung erheben: Euer Lebensstil hat unser Land unbewohnbar gemacht, nun müsst ihr uns Zuflucht gewähren!

Die Argumente, die Industrieländer moralisch herauszufordern, werden schon geschliffen. "Die Industrieländer sind die Hauptverantwortlichen für die Erderwärmung, also sind sie verpflichtet, diese Menschen aufzunehmen", sagt der Bauern-Aktivist Rahman aus Bangladesch. Das Muster hierzu gibt es bereits: Bangladescher wandern erst nach Indien aus, um von dort in die reichen Golfstaaten oder nach Europa zu gelangen. "Egal wie man es dreht, die Leute haben ein Recht darauf, in westlichen Staaten unterzukommen", sagt Rahman. Auch einige Politiker und Wissenschaftler in Bangladesch reden so.

Äthiopiens verstorbener Premier Meles Zenawi, bis 2012 Sprecher der afrikanischen Staaten für Klimapolitik, zeigte mit dem Finger auf die Industriestaaten. Der Klimawandel werde zuerst und am härtesten Afrika treffen, den Kontinent, der praktisch nichts zu dessen Entstehung beigetragen habe. "Kein Geldbetrag wird ausreichen, um den zugefügten Schaden zu beheben." Nnimmo Bassey, Träger des Alternativen Nobelpreises, spricht von der "historische Kolonisation der Atmosphäre durch die Industriestaaten", für die sie Ausgleich leisten müssten.

Was können die Europäer erwidern? Sie können den armen Ländern entgegenhalten, dass sie auch selbst verantwortlich sind; dass sie nichts gegen die Abholzung ihrer Wälder tun, nichts gegen die Überweidung ihrer Flächen durch Treibhausgas furzende Rinder. Was freilich auch nur ein Furz ist im Vergleich zu den Batterien an Kohlekraftwerken und den Autoschlangen des Nordens. Sie können den armen Ländern entgegenhalten, nichts zu tun gegen die gefährliche Erosion ihrer Küsten. Auch das ist richtig, aber ein bisschen ist das so, als sagte der Brandstifter zu seinem Opfer: Hättest du mal in eine ordentliche Sprinkleranlage investiert. Hättest du dir mal eine Feuerwehr nach westlichem Standard geleistet. Es mindert die Schuld der Industriestaaten kein bisschen.

Immerhin, es gibt eine gute Nachricht: Verglichen mit vielen Ereignissen, vor denen Menschen in vergangenen Jahrhunderten die Flucht ergriffen haben, ist der Klimawandel eine Katastrophe in gnädiger Zeitlupe. Der allmähliche Anstieg des Meeresspiegels, das erste träge Grummeln von El Niño, die schleichende Versalzung der Böden, das langsame Verdorren der Äcker: Alles das ist wenigstens lange vorher absehbar. Es gibt keinen Grund, dass Klimaflüchtlinge, deren Land mit den Jahren unbewohnbar wird, plötzlich irgendwo nachts an einer Grenze mit Handgepäck auftauchen müssten. Die Sache kann überlegt angegangen werden.

Lasst die Leute selbst entscheiden, wohin auf dem Erdball sie ziehen wollen! Das ist der derzeit liberalste Vorschlag in einer internationalen Debatte, die gerade erst Fahrt aufnimmt. Die Idee klingt gut, sie wird von vielen Menschenrechtlern befürwortet, in der Südseerepublik Tuvalu genauso wie in Finnland, und auch vom UN-Flüchtlingshilfswerk. Sie ließe sich leicht umsetzen: Man müsste nur die UN-Flüchtlingskonvention von 1951 ergänzen und den Klimawandel als neuen anerkannten Fluchtgrund hineinschreiben, gleichrangig neben der politischen Verfolgung. Dann könnten Klimaflüchtlinge, wenn das Wasser ihre Heimat verschluckt wie einst das mythische Atlantis, nach Stockholm ziehen oder nach New York; sie könnten überall ein Dach über dem Kopf und ein Minimum an Gastfreundschaft beanspruchen. Sie hätten Bewegungsfreiheit.

Die Vorstellung hat Charme: Nicht eine wuchtige Politiker-Runde legt fest, welches Land wie viele heimatlos gewordene Menschen aufnehmen muss. Sondern die Betroffenen entscheiden selbst, die vom Meeresspiegel bedrängten Pazifikinsulaner genauso wie die von der Eisschmelze bedrohten Inuit, jeder Einzelne für sich.

Nur würde dies die Ungerechtigkeit zwischen den Verschmutzerstaaten des Nordens und den leidtragenden Staaten des Südens erst recht zementieren. Viele Menschen in Bangladesch würden wohl auch bei einem modernisierten Asylrecht nur ins benachbarte Indien auswandern, wo ihnen die Lebenswelt vertraut ist. Das lehrt die Erfahrung. Viele Pazifik-Insulaner würden nur ins benachbarte Australien und Neuseeland aufbrechen. Europa und Nordamerika kämen auf diese Weise günstig davon.

Das wissen die Regierungen des Südens, und deshalb werden viele ihrer Politiker argwöhnisch, wenn im Norden über "freie Wahl" für Klimaflüchtlinge sinniert wird. Der Satz klingt menschenfreundlich: "Mit welchem Recht wollen wir den Leidtragenden des Klimawandels eine Akkulturation in einer ihnen völlig fremden Weltgegend abverlangen?", fragt der Wiener Völkerrechtler Gerhard Hafner, der im Auftrag des deutschen Umweltbundesamtes eine Studie zum politischen Umgang mit Klimamigranten erarbeitet hat. Seine Botschaft: Wer vom Klimawandel entwurzelt wird, der soll ziehen dürfen, wohin er möchte. Millionen Bangladescher, die vor dem Meer fliehen müssen, blieben dann wohl in der Nachbarschaft, in Indien. Was für die großen Verschmutzerstaaten des Nordens unterm Strich ein gutes Geschäft bedeutete - denn dann zahlt Indien die Rechnung.

Der Gegenvorschlag klingt kühler, aber realistischer: Es ist das Modell Scheckbuch

Der Gegenvorschlag klingt kühler, aber realistischer: Es ist das Modell Scheckbuch. Das 21. Jahrhundert müsste dann eine Zeit der globalen Kompensations-Zahlungen werden. Deutschland, Japan, die USA, alle großen Klimasünder zahlen gemeinsam in einen Topf ein, gestaffelt nach der Menge der Treibhausgase, die sie ausstoßen; und daraus finanziert zum Beispiel Indien seine enorme Integrationsleistung. Das klingt, als kaufe sich das reiche Europa von seiner Verantwortung frei. In Wahrheit schafft es mehr Gerechtigkeit zwischen den Staaten, weil es einer Teilung der Lasten näher kommt. Es wäre schon viel gewonnen, wenn so viel Geld zusammenkäme, dass man von einem Freikaufen sprechen könnte: Freikaufen, das heißt Schulden bezahlen - und die Schadenssummen im Süden werden, wenn man den UN-Klimaberichten glaubt, astronomisch sein.

Die Erderwärmung wird die Festung Europa nicht sprengen, aber es wird Geld fließen müssen aus dieser Festung, und zwar deutlich mehr als die Zusagen, die auf den jüngsten Klimagipfeln in Cancún und Warschau zu hören waren: 100 Milliarden Dollar jährlich, und zwar erst von 2020 an.

Die Industriestaaten dort waren sehr auf der Hut, dass es auf gar keinen Fall nach einer Haftung klingt. Sondern nur nach großherziger Hilfsbereitschaft. Nach Mitleid.

Dieses Essay erschien bereits am 20. Juni 2014 in der Süddeutschen Zeitung. Es wurde aufgrund der Ereignisse in Vanuatu aktualisiert.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: