68er-Bewegung:"Verrohung ist eine falsche Vorstellung von Freiheit"

Vietnam Demonstration Rudi Dutschke Erich Fried

Studentenführer Rudi Dutschke (Mi.) und der Schriftsteller Erich Fried (li.) an der Spitze eines Demonstrationszuges gegen den Vietnamkrieg 1968 in Berlin.

(Foto: dpa; Bearbeitung SZ)

Sozialphilosoph Oskar Negt im Gespräch über den Tod von Benno Ohnesorg, die Studentenbewegung von 1968 - und ob ihm die AfD und Trump den Optimismus ausgetrieben haben.

Interview von Lars Langenau, Hannover

Oskar Negt, 82, kommt wie Jürgen Habermas aus dem Frankfurter Institut für Sozialforschung, dem Forschungszusammenhang von Theodor W. Adorno und Max Horkheimer. Er begleitete zu dieser Zeit die 68er. Bereits Anfang der 60er Jahre wurde er als Mitglied des in Ungnade gefallenen sozialdemokratischen Studentenverbandes SDS aus der SPD ausgeschlossen - und trat nie wieder ein. Trotzdem blieb er der Sozialdemokratie immer verbunden - und wurde später ein Berater von Gerhard Schröder, wandte sich aber früh von der Agenda 2010 ab, die er als neoliberales Unglück geißelt. Von 1971 bis 2002 lehrte Negt als Professor Soziologie in Hannover, engagierte sich in der Arbeiterbildung, dem Ausbau von Volkshochschulen und gründete die reformpädagogische Glockseeschule in Hannover.

Herr Negt, bedeuten die Schüsse auf Benno Ohnesorg am 2. Juni 1967 eine Zäsur in der bundesdeutschen Geschichte?

Oskar Negt: Ja. Ich war zu dieser Zeit in Frankfurt am Main und nicht in Berlin, wo die Tat geschah. Ohnesorgs Tod bewegte die Gemüter in allen Universitätsstädten. Er war ein unpolitisches Opfer einer politischen Demonstration und wurde erst durch seinen Tod bekannt. Für viele aus dem intellektuellen Bürgertum, die damals für Demokratie und Rechtsstaat demonstrierten, bedeutete die Tat einen tiefen biografischen Einschnitt. Schließlich hätte der Schuss, der Benno Ohnesorg tötete, jeden treffen können.

Sie haben zeitlebens Soziologie mit Philosophie verbunden und sich für Aufklärung und Emanzipation des Individuums eingesetzt. Wenn Sie die aktuellen Nachrichten verfolgen, dann müsste Ihnen doch eigentlich zum Heulen zu Mute sein. Endet mit Trump und Erdoğan die Aufklärung?

Das wollen diese Dunkelmänner ja bezwecken. Das Ausmaß der Verwahrlosung und der Missachtung des bürgerlichen Anstandes in dieser Dimension habe ich tatsächlich nicht für möglich gehalten. Allerdings verweist die politische Situation auf eine Zerrüttung von Normen auch im Privatleben. Es scheint, als würden alle Tabus brechen und mir ist noch unklar, was für Folgen das für den Zusammenhalt des Gemeinwesens hat.

Aber gerade auch die 68er, denen sie freundschaftlich verbunden waren, wollten doch alle Tabus brechen und stellten alles in Frage. Und nun sind sie die Bewahrer?

Gesellschaftliche Verrohung ist eine falsche Vorstellung von Freiheit. Freiheit beginnt zwar mit dem Akt der Befreiung, sagte einst ganz richtig Herbert Marcuse. Aber dieser Freiheitsakt muss dann auch Gestalt annehmen. Es ist ein falsches Verständnis von Freiheit, wenn an die niedrigsten Instinkte appelliert wird.

Fremdschämen über das "Busen-Attentat" auf Adorno

Was haben Sie von dem spektakulären "Busen-Attentat" auf Adorno gehalten?

Gar nichts. Zunächst einmal muss ich gestehen, dass wir Männer die politische Botschaft dieser "Attacke" überhaupt nicht verstanden haben. Wir waren irritiert und haben etwas gefühlt, das man heute Fremdschämen nennt. Schließlich waren es intelligente Genossinnen. Dass in diesem Verhalten eine Patriarchatskritik steckte, ist uns verborgen geblieben. Tatsächlich waren die Männer im SDS sehr dominant. Adorno bat mich sogar, meinen Einfluss geltend zu machen, diese Affäre mit den entblößten Brüsten der drei Studentinnen herunterzuspielen. Gendersensibilität stand leider nicht im Vordergrund unserer politischen Vorstellungen.

Sie waren 1968 im Wissenschaftsbetrieb etabliert, lebten bürgerlich mit Familie, Kindern und Hund. Die Aktionen der Spontis waren Ihnen fremd?

Ich war damals Assistent bei Jürgen Habermas und schon deshalb eher Begleiter als Aktivist der 68er. Außerdem hatte ich sehr früh Kontakt zu den Gewerkschaften, insbesondere der IG Metall. Ich habe mich deutlich mehr für die Arbeiterbewegung interessiert als für hedonistische Selbstverwirklichung.

Zu den Wortführern des SDS gehörte auch der Freund von Rudi Dutschke, Bernd Rabehl, der heute zur Rechten tendiert. Können Sie sich erklären, wie sich Horst Mahler von ganz links nach ganz rechts entwickelt hat?

Eine individuell-psychologische Erklärung solcher extremen Wandlungen ist immer wieder versucht worden und muss letztlich scheitern. Politisch ist er der Typ, der mit überhöhten Erwartungen in eine Organisation geht, dann enttäuscht wird und sich radikal abwendet. Das klassische Konvertitentum, der Wechsel ins andere Extrem.

Wie ist Ihnen der Anwalt der 68er und Mitbegründer der RAF aufgefallen?

Ich erinnere mich an eine Situation, als Mahler mal bei einem Treffen des Republikanischen Clubs, dem Kommunikations- und Aktionsforum der APO, auftauchte. Er bestand darauf, umgehend die Vertreter der Berliner Räterepublik zu benennen, weil der linke Umsturz in Berlin unmittelbar bevorstehe ...

Hört sich eschatologisch an ...

Vor allem hat mich betrübt, dass ihm niemand von diesen hochintelligenten Leuten im Republikanischen Club widersprochen hat.

Wieso sich die AfD an den 68ern abarbeitet

Können Sie sich erklären, wieso sich die AfD heute so an den 68ern abarbeitet?

Weil das damals auch ein Aufbruch mit Utopien war, in denen Freiheitsvorstellungen eine Rolle spielten. Im Grunde war das eine kulturelle Revolution mit starken emanzipativen Elementen, und so was stört natürlich Rechtspopulisten. Bei der AfD vermischen sich Ängste ganz verschiedener Art und da widerspricht sich auch einiges: Zum einen kritisieren sie die Verlotterung der Sitten durch die 68er und zum anderen loben sie Donald Trump. Dabei gehört ja gerade der zu den aktiven Zerstörern jeglicher Moral. Aber erstmals ist auch der Mittelstand massenhaft bei so einer Bewegung dabei: Das sind Leute, die etwas zu verlieren, aber noch nicht verloren haben. Das sehen wir auch am Wahlerfolg von Trump: Da haben Verängstigte ihre Hoffnung auf einen Multimillionär gesetzt, der ihnen "America first" verspricht und jetzt kollidieren die Vorstellungen dieses eitlen, unreifen Narzissten ständig mit dem amerikanischen Rechtssystem.

Gefährdet die AfD die Demokratie?

Ja. Wiederherstellung autoritärer Strukturen in der Gesellschaft ist deren Ziel. Das Gefährliche an der augenblicklichen Situation sind die antidemokratischen Impulse der AfD, die nun über ihre Wahlerfolge ins System einsickern. Da ist auch ein fundamentaler Unterschied zu den Rechtsextremisten nach dem Krieg, die in den 60er Jahren mit der NPD vorübergehend große Erfolge verzeichnete. Inzwischen hat sich der Rohstoff Angst in der Gesellschaft gebündelt. Hier entsteht meines Erachtens eine Analogie zur Weimarer Republik: Dass der Abbau der Demokratie auch auf dem ganz normalen, demokratischen Weg über Wahlen erfolgen kann. Als Hermann Göring 1932 Reichstagspräsident wurde, war klar, dass die Nazis ein stabiles Stück des Staates erbeutet haben und dann setzte sich der Erfolg in weiteren Wahlen fort. Dass bald AfD-Mitglieder in Parlamentarischen Kontrollgremien sitzen könnten, betrachte ich als große Gefahr.

Und macht es Ihnen auch Angst?

Es verunsichert. Auch mich. Wir haben es gerade weltweit mit einer Art Erosionskrise zu tun, in der sich alte Loyalitäten auflösen und Gefolgschaften nicht mehr gesichert sind. Alte Normen und Werte gelten nicht mehr unbesehen. Bei dem französischen Soziologen Émile Durkheim gibt es die Theorie, dass in großen gesellschaftlichen Umbrüchen alte Normen und Institutionen weiterexistieren, aber Selbstverständlichkeit und Geltungswert verloren haben. Sie werden inhaltlich leer, üben aber noch Macht aus. Das Problem ist nun, dass hier ein moralisches Vakuum entsteht, weil es noch keine Alternativen gibt.

Sehen Sie trotz AfD und Trump einen Fortschritt der Menschheit?

Sie stellen Fragen! (grinst) Aber im Grunde ja. Auch wenn das AfD-Abenteuer nicht leicht zum Verschwinden gebracht werden wird: Es evoziert Widerstand und Erneuerungskräfte, die darüber reflektieren, was Demokratie heißt. Demokratie ist die einzige staatlich organisierte Gesellschaftsordnung, die gelernt werden muss, und zwar Tag für Tag. Die anderen Formen sind autoritär und brauchen das nicht, deshalb müssen wir den Schwerpunkt auf Bildung und Engagement setzen. Nicht umsonst heißt der Rückzug ins Private auf griechisch Idiotes, es steckt der Verweis auf etwas Krankes darin.

Also lernen, um partizipieren zu können?

Genau. Und wir haben allen Grund, hoffnungsvoll in die Zukunft blicken zu können! Ich vertrete da die Linie von Antonio Gramsci, der sagte, dass er Pessimist in der Analyse sei, weil die schlechteste denkbare Entwicklung nicht auszuschließen ist. Damit könne man aber nicht leben. Man müsse daher Optimist in der politischen Praxis sein. Deshalb sei es die Aufgabe der Intellektuellen, nach Alternativen zu suchen. Ich füge als Vater hinzu: Man kann seinen Kindern nicht vermitteln, dass alle Wege verstopft sind. Schon deshalb halte ich eine Form des pädagogischen Optimismus für notwendig.

Wie viele Versuche benötigte es, um ein Streichholz zu produzieren?

Von Gramsci stammt auch der Begriff der "kulturellen Hegemonie" - und den haben im Moment die Rechten.

Und das auch noch mit Hilfe von Intellektuellen. Dass die sich gerade eine rechte Ideologie zurechtzimmern, dazu haben auch Philosophen wie Peter Sloterdijk oder Wolfgang Kersting beigetragen, die zudem noch eine Vielzahl von Schülern hinterlassen. Von der Haltbarkeit dieser zusammengestoppelten Ideologie bin ich allerdings nicht überzeugt.

Vielfach werden die 68er auch als Wegbereiter des Terrorismus stigmatisiert. Wie war das Ende der 60er Jahre, als manche auch Ihrer Studenten in den Untergrund gingen?

Ich habe 1972 eine einflussreiche Rede über die RAF gehalten, in der ich definiert habe, was Sozialismus ist und was nicht. Terror gehört keinesfalls dazu. Ich denke, ich konnte damit vielen an der Basis einen Bezugsrahmen geben, aus dem sie auch nicht gefallen sind wie Ensslin, Baader und Meinhof.

Auch Daniel Cohn-Bendit saß in Ihren Vorlesungen. Hat der was von Ihnen gelernt?

Das will ich doch hoffen. Er bewegte sich lange mit Solidaritätsbekundungen an der gedanklichen Frontlinie zum Terrorismus. Auch Joschka Fischer vertrat lange die Mordtheorie der RAF-Leute in Stammheim 1977 und antwortete auf die Frage, wohin er die Pflastersteine denn geworfen habe, die er - dokumentiert auf Demofotos - in der Hand hielt: 'In die Luft!' (lacht) Die beiden haben lange die Verhältnisse nur vernebelt und waren in dieser Hinsicht fragwürdige Vorbilder für die unmittelbar nachfolgende Studentengeneration, auch wenn sie später respektable grüne Politiker waren.

Was bleibt von der 68er-Bewegung?

Der Versuch des überschreitenden Denkens. Ein Denken, das Mut und die Aufklärung benötigt. Und dass die 68er den Satz von Immanuel Kant, "habe Mut dich deines Verstandes ohne Anleitung eines anderen zu bedienen", immer umsetzten. Sich in der Tradition der Aufklärung zu bewegen, bedeutet, das bürgerliche Emanzipationsbestreben ernst zu nehmen und zu aktualisieren. Das halte ich für etwas, was bleibt. Denn Demokratie ist nicht haltbar, wenn sie nicht das Moment freier Selbstregulierung hat. Die Menschen müssen sich einen Freiraum erkämpfen, einen Zustand, in dem sie sich auch wirklich frei fühlen. Das löst zwar nicht die soziale Frage, aber den Menschen könnte im Sozialstaat die Existenzangst genommen werden. Auch der Versuch, eine Utopie umzusetzen, wird bleiben. Die gescheiterten Experimente von Plato bis in die Neuzeit sind Versuche, die vielleicht irgendwann einmal fruchten werden. Marcuse fragte einmal, wie viele Versuche es eigentlich benötigt habe, um ein Streichholz zu produzieren? Wie viele Versuche brauchen wir dann also, um eine menschenwürdige Gesellschaft zu schaffen?

Nur dass viele utopische Versuche im Massenmord endeten. Was kann das verhindern?

Empathie, politische Bildung und das Wissen, dass es zur Aufklärung keine Alternative gibt. Sie zu verneinen, ist genauso falsch, wie sie buchstäblich zu nehmen. Allerdings ist es immer nötig, dass auch eine Haltung des Interesses und der Liebe zum Menschen dazukommt.

Was von den 68ern bleibt
68er Revolte

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