Entwicklung der EU:Europas Zukunft ist links

Debt Wracked Greece Elects Pro-Bailout Party

Anhänger der linken Partei Syriza schwenken Flaggen in Athen. Philosoph Horvat sieht den Erfolg Syrizas als günstiges Vorbild für die Linken in Europa.

(Foto: Getty Images)

Rechtspopulistische Parteien gelten als die großen Sieger der Europawahl. Manche erklären daher die europäische Linke für tot. Doch das Gegenteil ist der Fall.

Ein Gastbeitrag von Srećko Horvat

Als der britische Autor und Historiker Tariq Ali Mitte der Sechzigerjahre nach Vietnam reiste, um Beweismaterial und Zeugenaussagen über die amerikanische Militärintervention zu sammeln, erzählten ihm vietnamesische Soldaten in Hanoi eine Anekdote: Wenige Monate zuvor sei eine Delegation der Kommunistischen Partei Italiens (KPI) eingetroffen, um Ho Chi Minh zu treffen. Nach einem langen Gespräch hätten die Italiener den vietnamesischen Führer gefragt, wie sie ihm helfen könnten. Worauf Ho Chi Minh geantwortet habe: "Der beste Weg, mir zu helfen, ist, eine Revolution in Italien auszulösen."

Es scheint weitgehend Einigkeit darüber zu herrschen, dass die vergangenen europäischen Parlamentswahlen einen dramatischen Zugewinn der radikalen Rechten bewiesen. Ich möchte an dieser Stelle trotzdem die folgende Hypothese wagen: Die europäische Linke ist zurück!

Und sie ist es genau deshalb, weil sie das Motto des alten Ho Chi Minh beherzigte und verinnerlichte. Es ist nicht genug, der griechischen Linksallianz Syriza zu ihrem unglaublich erfolgreichen Abschneiden zu gratulieren und sie dafür zu bewundern - solche neuen Parteien und Organisationen müssen überall in Europa gegründet werden.

Die Situation ist natürlich nicht so gut, um in einen Freudentaumel zu verfallen. Vom Front National in Frankreich bis zur Ukip in Großbritannien, von der Jobbik in Ungarn bis zur Freiheitlichen Partei in Österreich (FPÖ), von den True Finns bis zur Alternative für Deutschland (AfD) - die Rechtsextremen und Rechtspopulisten haben europaweit vom Unbehagen der Bevölkerung profitiert.

Auf der anderen Seite steht der erste Wahlsieg einer linksgerichteten Partei in Europa seit dem Triumph der Kommunistischen Partei Italiens im Jahr 1984. Die Syriza schaffte 26,5 Prozent. Würden morgen in Griechenland Parlamentswahlen stattfinden, käme die Partei auf 130 Sitze. Und es ist nicht mehr nur Syriza.

Aktivisten, die mit der spanischen "Bewegung der Empörten" in Verbindung gebracht werden, gründeten eine neue Organisation namens Podemos ("We can") und bekamen acht Prozent, was fünf Sitzen im Europäischen Parlament entspricht. Sie existieren erst seit vier Monaten und sind bereits die viertgrößte Partei in Spanien und die drittgrößte in Madrid.

Syriza als Inspirationsquelle

"L'Altra Europe" ("Das andere Europa"), die Alexis Tsipras stützende linke Liste Italiens, wurde erst im März 2014 gegründet und erreichte vier Prozent und drei Sitze im EU-Parlament.

Die Vereinigte Linke in Slowenien erhielt überhaupt keine Sitze im Europaparlament, schaffte aber 5,9 Prozent und käme damit bei nationalen Parlamentswahlen auf sechs Sitze. Auch diese Partei wurde, wie Podemos in Spanien, nur wenige Monate zuvor gegründet.

Es verwundert nicht, dass all diese jungen, europäischen, linken Parteien Syriza als ihre Inspirationsquelle nennen. Ebenso wenig überrascht es, dass die meisten von ihnen aus den Protestbewegungen der vergangenen Jahre hervorgegangen sind. Viele der neu gewählten Syriza-Abgeordneten im Europäischen Parlament stehen mehr oder weniger eng mit diesen Bewegungen in Verbindung.

Prominente Antifaschisten wie der älteste Abgeordnete Manolis Glezos (er erklomm 1941 die Akropolis, um die seit der deutschen Einnahme Athens gehisste Hakenkreuzflagge niederzureißen), haben nun einen Sitz im Europaparlament. Ferner zeigt die Wahl der bulgarischen Staatsbürgerin und Gewerkschaftlerin Kostadinka Kuneva in Griechenland, aufgestellt auf der Wahlliste der Syriza, dass die neue Linke das Potenzial hat, grenzüberschreitend zu agieren.

"Eine Linksallianz in Athen löste Europas Stillstand"

Kurzum: Was uns die europäischen Parlamentswahlen zeigen, ist nicht nur das definitive Ende der Überparteilichkeit in Europa oder den Erfolg der extremen Rechten, sondern ebenso den Aufstieg einer neuen Linken, die bereit ist, Risiken einzugehen, auch wenn diese in Misserfolgen enden können ("Kompromisse", "sozialdemokratischer Wandel", "der lange Weg durch die Institutionen").

Was wir bei dieser Europawahl beobachten konnten - und was zum großen Teil auch auf die "gegenwärtige Ohnmacht" der Linken zutrifft -, entspricht dem, was Hegel im Zusammenhang mit dem Begriff der "schönen Seele" verhandelte. Menschen - seien es Aktivisten, Intellektuelle oder die Wählerschaft - enthalten sich des Engagements, sind unwillig, sich die Hände schmutzig zu machen. Ist da die berühmte Passage aus Hegels "Phänomenologie des Geistes" nicht die beste Beschreibung für all diejenigen, die zwar den Aufstieg der Rechten beklagen, ihn aber nicht bekämpfen, manchmal sogar nicht mal selbst zur Wahl gehen?

Dieses Bewusstsein, so Hegel, "lebt in der Angst, die Herrlichkeit seines Innern durch Handlung und Dasein zu beflecken, und um die Reinheit seines Herzens zu bewahren, flieht es die Berührung der Wirklichkeit und beharret in der eigensinnigen Kraftlosigkeit, seinem zur letzten Abstraktion zugespitzten Selbst zu entsagen (. . .)." Ja, wir alle kennen das oft zitierte Anarchisten-Bonmot: "Wenn Wahlen etwas ändern würden, wären sie illegal." Aber das hält die Wähler der Rechtsextremen nicht davon ab, ihre Stimme Neonazi-Parteien zu geben und so dazu beizutragen, einst illegale Maßnahmen (etwa die Anti-Immigranten-Gesetze) zu legalisieren. Ist es also besser, sich von den Wahlen fernzuhalten und ihnen das Feld zu überlassen?

Zeitgenössische "schönen Seelen"

Der Führer der spanischen Podemos-Partei, Pablo Iglesias, hatte also recht, als er dem Guardian sagte, die Idee hinter der Partei sei ganz einfach: "Es sind Bürger, die Politik machen. Wenn die Bürger sich nicht in die Politik einbringen, werden es andere tun. Und das öffnet die Tür für diejenigen, die uns der Demokratie, der Rechte und des Portemonnaies berauben."

Liegt nicht genau in dieser Auffassung das beste Rezept, um nicht nur den Rechtspopulisten, sondern auch den zeitgenössischen "schönen Seelen" den Kampf anzusagen? Vielleicht werden die neuen linken Mitglieder des europäischen Parlaments abgesehen davon, dass sie eine Entwicklung sichtbar machen, nicht viel erreichen. Aber ihr Wahlerfolg hat jetzt schon die politische Landkarte der nationalen Parlamente ihrer Herkunftsländer verändert.

Wenn sich Syriza mit ihrer Forderung nach vorgezogenen griechischen Neuwahlen durchsetzt und die Linksallianz an die Macht käme, löste dieser Vorgang zweifelsohne den aktuellen europäischen Stillstand. Sofern es aber den rechtspopulistischen und europaskeptischen Parteien gelingen sollte, ihre Ziele politisch durchzusetzen, sieht sich der europäische Kontinent möglicherweise erneut mit den schlimmsten Albträumen des 20. Jahrhunderts konfrontiert.

Da das derzeitige europäische Establishment die Krise nur vertieft und dadurch direkt zum Aufstieg der Neonazi-Parteien beiträgt, liegt die Zukunft Europas links. Und die einzige Linke, die fähig ist, ihre eigene Zukunft zu ändern, ist diejenige ohne "schöne Seele", eine, die bereit ist, sich die Hände schmutzig zu machen.

Der Autor ist Philosoph und gilt als eine der zentralen Figuren der neuen kroatischen Linken. Er lebt in Zagreb. Zuletzt erschien "Nach dem Ende der Geschichte. Vom arabischen Frühling zur Occupy-Bewegung" (2013) und mit Slavoj Žižek "Was will Europa? Rettet uns vor den Rettern" (2013).

Aus dem Englischen von Tobias Ricken.

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