Entstehung der Ukraine 1918:Der vergessene Frieden

Brotfrieden

Mitglieder der deutschen und der ukrainischen Delegation bei der Unterzeichnung des "Brotfriedens" 1918, verewigt auf einer Postkarte.

(Foto: Wikimedia Commons/CC-PD-Mark)

Vor 100 Jahren kämpften Europa und Russland ähnlich um die Ukraine wie heute. In den Wirren des Ersten Weltkriegs, mit dem "Brotfrieden" 1918, entstand der moderne ukrainische Staat. Als unabhängiges Land existierte er nur kurz, aber seine Grundpfeiler wirken bis in die Gegenwart.

Ein Gastbeitrag von Mark von Hagen

Eine zersplitterte europäische Allianz kämpft mit Russland um eine Ukraine, die aus dem Niedergang eines mächtigen Imperiums hervorgegangen ist. Russland führt Friedensgespräche mit Europa, während prorussische Truppen eine Gegenregierung in der Ostukraine bilden - Russland leugnet jede Unterstützung für diese Kämpfer.

So sehr dieses Szenario auch nach einer aktuellen Situationsbeschreibung klingt, schildert es zugleich Konflikte, die etwa 100 Jahre zurückliegen. 1917 beanspruchte die gesamtukrainische Ratsversammlung, Zentralna Rada, als Revolutionsparlament die Macht über die ukrainische Volksrepublik. Ihren Kampf um Autonomie und Unabhängigkeit kämpfte sie zunächst gegen die provisorische Regierung in Russland und schließlich gegen deren Nachfolger, die Bolschewiken.

Der Erste Weltkrieg war in seinem dritten verheerenden Jahr und für beide Seiten des Konflikts, das Militärbündnis der Mittelmächte und die Entente, war die geopolitische Richtungsentscheidung der Ukraine von strategischer Bedeutung. Die Entente-Kräfte waren die ersten, welche die ukrainische Regierung anerkannten. Sogar die Vereinigten Staaten eröffneten ein Konsulat in Kiew. Die Entente hoffte, die Ukraine würde ihrer Koalition beitreten, aber die Ukrainer bestanden auf ihrer Neutralität.

Der "Brotkorb Europas" beharrte auf seiner Neutralität

Es waren jedoch Deutschland und Österreich-Ungarn, die in der Ukraine eine viel wichtigere Rolle spielten. Ihre Generäle wollten Truppen von der Ostfront für eine finale Offensive zur Westfront verlegen und waren willens, mit jedem Land einen Separatfrieden zu schließen, das feindliche Truppen stellte. Ihre Diplomaten standen außerdem unter dem Druck der in ihren Parlamenten mehrheitlich vertretenen Sozialdemokraten. Wien befand sich am Rande einer Hungersnot.

Auch die Bolschewiken brauchten dringend Frieden und verlangten im Dezember 1917 nach Gesprächen. Die Verhandlungen fanden alsbald unter der Leitung der Mittelmächte in Brest-Litowsk statt.

Zur großen Überraschung aller kam auch eine ukrainische Delegation zu den Gesprächen und beanspruchte das Recht, den Frieden im Interesse ihres Landes autonom zu verhandeln. Die Ukraine, einst Brotkorb Europas, versprach den Mittelmächten Getreidelieferungen, beharrte aber weiterhin auf ihrem Neutralitätsstatus.

Nach einigen Wochen harter Verhandlungen erkannten alle vier Mittelmächte die Ukraine am 9. Februar 1918 im "Brotfrieden" an, dem ersten Friedensvertrag des Krieges. Auch Russland wurde verpflichtet, die ukrainische Regierung anzuerkennen.

"Weder Krieg noch Frieden"

Eigentlich hatten die Bolschewiken die ukrainische Volksrepublik schon am 17. Dezember 1917 in einem Manifest anerkannt - aber gleich danach auch angegriffen. Ihr Manifest beinhaltete nämlich ein Ultimatum und eine Liste von Beschwerden gegen die ukrainische Regierung. Als die Ukrainer sich den Bestimmungen des Ultimatums verweigerten, erklärte Sowjetrussland seinen ersten Krieg gegen eine rivalisierende, von Sozialisten dominierte Ukraine.

Als die Rote Armee Kiew bombardierte, kamen die Mittelmächte der ukrainischen Regierung zu Hilfe. Grund hierfür war nicht zuletzt der akute Bedarf an Nahrungsmitteln und die Verärgerung über die bolschewistischen Verzögerungstaktiken bei den Friedensverhandlungen. Leo Trotzki, Anführer der sowjetischen Delegation, beschrieb die eigene Strategie mit dem knappen Satz: "Weder Krieg noch Frieden".

Die Bolschewiken wurden von deutschen Truppen aus der Ukraine vertrieben. Es folgte eine fast achtmonatige Okkupation durch die Mittelmächte.

Diese Besatzung war nicht geplant. Deutschland hatte dafür eigentlich zu wenig Truppen übrig und Österreich-Ungarn wies den deutschen Wunsch, bei der Besatzung zu helfen, zunächst zurück. Das Resultat der improvisierten Invasion war ein von Deutschland gestützter Regierungswechsel in der Ukraine, bei dem jene Regierung abgesetzt wurde, mit welcher die Mittelmächte ursprünglich ihren Vertrag unterzeichnet hatten.

Der unabhängige ukrainische Staat existierte kurz, aber dennoch mit Folgen

An ihre Stelle trat unter General Pawlo Petrowytsch Skoropadskyj ein konservativer, monarchistischer Marionettenstaat. Die Besatzung artete schnell in eine Militärdiktatur aus, was zu einem landesweiten Aufstand führte. Der deutsche Befehlshaber in Kiew wurde ermordet. Schließlich wurden die Mittelmächte im November 1918 besiegt.

Der unabhängige ukrainische Staat überlebte noch ein weiteres Jahr als Direktorium - bevor er weiteren bolschewistischen Invasionen, danach einer weißrussischen Besatzung und schließlich dem sowjetisch-polnischen Krieg von 1920 zum Opfer fiel. Das einstige Staatsoberhaupt General Pawlo Skoropadskyj floh nach Deutschland. Er starb im April 1945 in Bayern auf der Flucht vor den herannahenden sowjetischen Truppen während eines alliierten Bombenangriffs.

Der unabhängige ukrainische Staat existierte nur kurz, aber seine Existenz führte dazu, dass die Sowjets später eine separate ukrainische sozialistische Republik als konstituierenden Teil der UdSSR anerkannten. Diese Sowjetrepublik verfügte über ein eigenes Parlament und eine Wissenschaftsakademie, die nach 1991 wichtige Grundpfeiler der unabhängigen Ukraine bildeten.

Wie heute verhandelten Diplomaten lieber mit Russland als mit der Ukraine

Ähnlich den Vorgängen von 1991 und von heute, so war auch 1917-1918 die Entstehung des Staates Ukraine ein gemeinschaftliches Projekt all der entschlossenen (und meistens sehr jungen) ukrainischen Diplomaten, aber auch der diplomatischen und militärischen Vertreter Frankreichs, Deutschlands, Österreich-Ungarns und anderer Länder.

Manche Verteidiger ukrainischer Eigenstaatlichkeit wie der französische General Georges Tabouis verbrachten viel Zeit an der entscheidenden russischen Südwestfront. General Max Hofmann war einer der kenntnisreichsten Russland-Experten in der deutschen Armee und kannte die Ukraine durch seine Karriere vor dem Krieg.

Beide trafen allerdings, ähnlich den heutigen europäischen Entscheidungsträgern, in ihren Außenministerien und beim Militär auf deutlich weniger kenntnisreiche Kollegen. Die meisten Diplomaten und Militärs damals bevorzugten es, mit einem Russland zu verhandeln, das sie bereits kannten, anstatt mit einer Ukraine, die sich separatistisch gerierte.

Autonomiebestrebungen sah man in Österreich-Ungarn nicht gerne

Das traf vor allem auf die Österreichisch-Ungarische Monarchie zu, deren Staatsmänner fürchteten, die eigenen störrischen nationalen Minderheiten könnten sich den ukrainischen Separatismus zum Vorbild nehmen. Aber auch unter den Deutschen gab es viele Strategen, die die ukrainischen Autonomiebestrebungen nicht ernst nahmen.

Das Unbehagen im Umgang mit "nicht-historischen" Nationen - also solchen, die unter fremder Herrschaft leben - stellte immer eines der größten Hindernisse für das ukrainische Streben nach Unabhängigkeit und Staatlichkeit dar. Dies bewahrheitet sich in vielerlei Hinsicht auch noch heute.

Viele westliche Medien wenden sich, offenbar aus alter Gewohnheit, an "Russland"-Experten, die, wie ihre imperialen Vorgänger aus der Kriegszeit, nichts oder sehr wenig über die ukrainische Geschichte oder die ukrainische Sprache wissen und diese Geschichte aus dem Blickwinkel Moskaus oder, noch weiter zurückliegend, aus dem Blickwinkel Sankt Petersburgs interpretieren, der Hauptstadt des Zarenreichs zwischen 1712 und 1918.

Das Schicksal der Ukraine als neuer und fragiler Staat in einer feindschaftlichen Nachbarschaft war 1918 bei Weitem kein Einzelfall. Kurz nach der Anerkennung der Ukraine wurden auch das neue Polen, die Tschechoslowakei sowie die baltischen Staaten und Finnland von der internationalen Gemeinschaft anerkannt. Sie waren Bedrohungen ausgesetzt und benötigten die Unterstützung der internationalen Gemeinschaft.

Noch heute ist die Ukraine auf Hilfe von außen angewiesen

Auch heute braucht die Ukraine internationale Hilfe, um ihre Marktwirtschaft und Demokratie zu konsolidieren. Sie hat einen unfreundlichen und mächtigen Nachbarn im Osten, dem an einer Destabilisierung der Ukraine gelegen ist. Auf lange Sicht hängt das Überleben und die Stabilität der Post-Maidan-Ukraine davon ab, wie freundlich, demokratisch und wohlhabend Russland sein wird. In der Zwischenzeit wird auch die Unterstützung von anderen Nachbarn unverzichtbar sein, von Moldawien, Georgien, den baltischen Staaten, Polen und Rumänien.

Es ist deutlich geworden, dass die Regierungen einiger europäischer Länder , allen voran von Deutschland, Frankreich, Großbritannien und Österreich, sich zwar Gedanken über Gaslieferungen machen, aber sonst ihre nationalen Interessen durch den russisch-ukrainischen Konflikt nicht wesentlich berührt sehen.

Bevormundung ist nicht die Lösung

Die Eliten dieser Länder scheinen von "Russlandverstehern" dominiert zu sein, welche das Schicksal eines Staates an der Peripherie Russlands nicht zu ihren Angelegenheiten zählen. Deswegen braucht die Ukraine, wie bereits 1917-1918, ihre eigenen Politiker und Bürger, die sich der Unabhängigkeit und dem Wohlstand ihres Landes verpflichtet fühlen.

Viele russische und polnische Historiker übrigens haben die Ukraine lange ignoriert und den Frieden von 1918 vergessen. Ihrem Geschichtsverständnis nach war und bleibt die Ukraine lediglich ein chaotisches Grenzland, das nach einer externen ordnungsbringenden Macht verlangt.

Nach mehr als zwei Jahrzehnten Unabhängigkeit ist die Ukraine nicht mehr das fragile Staatsgebilde von 1917-1918. Was dieses Land braucht, ist jedoch nicht Bevormundung, sondern Verständnis und Unterstützung .

Der Autor ist Dekan der Philosophischen Fakultät der Ukrainischen Freien Universität in München und Professor an der Arizona State University. Aus dem Englischen: Tobias Ricken.

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