Entsenderichtlinie:Besser so als gar nicht

Höhere Löhne für die Arbeiter aus Osteuropa, die in Westeuropa arbeiten, sind gut; der dafür von der EU gewählte Weg ist schlecht, aber besser als der bisherige Zustand. Daher ist die Entsenderichtlinie auch ein Mittel gegen Populismus von rechts und links.

Von Nikolaus Piper

Zu den wichtigsten Dingen, die in wohlhabenden Ländern den Zorn auf die EU schüren, gehört die Arbeitsmigration aus den Niedriglohnstaaten Mittel- und Osteuropas. Besonders dann, wenn es sich bei den Migranten um Arbeitnehmer aus Polen, Tschechien, Ungarn oder Rumänien handelt, die von ihren Arbeitgebern nach Westeuropa "entsandt" werden, um dort auf Baustellen, in Schlachthöfen oder auch in Krankenhäusern zu arbeiten. Dort treten sie in direkte Konkurrenz zu deutschen oder französischen Arbeitnehmern, werden aber weiter nach osteuropäischen Verträgen bezahlt. Im Durchschnitt bekommen sie gerade einmal die Hälfte des ortsüblichen Gehalt. Westliche Gewerkschaften bezeichnen das als "Lohndumping", zumal die entsandten Osteuropäer oft unter elenden Bedingungen arbeiten und leben müssen.

Bereits 1996 erließ die EU eine "Entsenderichtlinie", um diesen Lohnwettbewerb zu begrenzen. Seither muss zum Beispiel ein aus Polen nach Deutschland entsandter Arbeitnehmer wenigstens den deutschen Mindestlohn bekommen. Jetzt haben die EU-Sozialminister diese Richtlinie noch wesentlich verschärft. Künftig soll, falls das Europaparlament zustimmt, ein Entsandter nicht nur den Mindestlohn, sondern auch ortsübliche Zulagen, Prämien und andere Gehaltsbestandteile bekommen. Spätestens nach 18 Monaten werden die Entsandten den Einheimischen im Gastland gleichgestellt. Lkw-Fahrer werden auf Wunsch der Osteuropäer erst einmal von der neuen Richtlinie ausgenommen. Das Parlament könnte wichtige Teile des Entwurfs noch verändern.

Höhere Löhne sind gut; der Weg dahin ist aber problematisch

Höhere Löhne und bessere Behandlung osteuropäischer Arbeiter - das klingt zunächst einmal gut. Der Weg dorthin, die neue Richtlinie also, ist höchst problematisch. Das eherne Prinzip der Freizügigkeit wird ersetzt durch das arbeitsrechtliche Prinzip: gleicher Lohn für gleiche Arbeit am selben Ort. Und das ist ein Verstoß gegen die Prinzipien des Binnenmarkts. Entsendung von Arbeitnehmern ist keinesfalls per se ausbeuterisch, sondern gängige und notwendige Praxis, zum Beispiel, wenn eine Anlage im Ausland montiert werden soll. Die deutschen Arbeitgeberverbände haben durchaus recht mit ihrer Kritik: Es wird künftig einfacher sein, einen Arbeitnehmer nach Indien zu entsenden als nach Frankreich. Zudem macht die Richtlinie die Spaltung Europas manifest. Polen, Ungarn, Tschechien und andere aufstrebende Länder, die bisher vom Status quo profitiert haben, wehren sich vehement gegen dessen Änderung.

Trotzdem ist der Beschluss der EU-Minister richtig, besser jedenfalls, als wenn alles so bliebe wie 1996. Ein einheitlicher Binnenmarkt bei sehr großen Unterschieden der Einkommen - das schafft Verwerfungen, die man sich nicht vorstellen konnte, als einst der Binnenmarkt beschlossen wurde. Mit einem polnischen Gehalt kann man in Danzig gut leben, nicht aber in München. Hier sind die Betroffenen gezwungen, für das Geld in ärmlichsten Verhältnissen zu leben. Es ist ein Unterschied, ob eine Ware über die Grenzen bewegt wird oder menschliche Arbeitskraft.

Und auch das ist ein Faktor: Die Zahl der entsandten Arbeitnehmer hat sich zwischen 2010 und 2014 fast verdoppelt. Allein nach Deutschland kamen bis zuletzt mehr als eine halbe Million Arbeitnehmer, die meisten aus Polen. Auch der französische Präsident Emmanuel Macron hat Verständnis verdient. Macron braucht politischen Schutz aus Europa für seine Liberalisierung des Arbeitsmarktes. Er will etwas bekämpfen, das viele Franzosen für extrem ungerecht halten - dass Osteuropäer für, aus westlicher Sicht, Hungerlöhne im Westen Europas arbeiten. So gesehen ist die Entsenderichtlinie auch ein Mittel gegen Populismus von rechts und links.

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