Sicherungsverwahrung:Dilemma mit Vorgeschichte

Menschenrechte wahren oder die Bevölkerung schützen? Unter großem Druck verhandelt das Bundesverfassungsgericht über die Frage der Sicherungsverwahrung.

Wolfgang Janisch

Der öffentliche Druck, der auf den Verfassungsrichtern lastet, dürfte gewaltig sein: An diesem Dienstag verhandelt der Zweite Senat unter Vorsitz von Andreas Voßkuhle über die Sicherungsverwahrung. Oder, um es präziser auszudrücken: darüber, ob demnächst etwa 100 Straftäter ihre Zellen verlassen und in ein Wohnviertel ihrer Wahl ziehen dürfen.

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Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts im Zwiespalt: Menschenrechte wahren oder die Bevölkerung schützen?

(Foto: dpa)

Denn der Straßburger Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) hat in seinem Urteil vom Dezember 2009 und weiteren Entscheidungen die Verwahrung gefährlicher Täter in Deutschland beanstandet und die deutschen Gerichte damit vor eine geradezu tragische Alternative gestellt: Sie müssen entscheiden, ob sie menschenrechtswidrig eingesperrte Häftlinge freilassen oder nicht. Tun sie es, laufen sie Gefahr, von der Öffentlichkeit für mögliche Opfer haftbar gemacht zu werden; die Boulevard-Presse titelt in solchen Fällen gerne "Justiz-Irrsinn". Lassen sie es aber sein, müssen sich die obersten Richter Deutschlands fragen lassen, wie sie es mit elementaren Grundsätzen wie dem Recht auf Freiheit und dem Verbot rückwirkender Bestrafung halten.

Über vier Häftlings-Beschwerden verhandelt des Bundesverfassungsgericht - und sie alle müssten, nähme man den Straßburger Gerichtshof beim Wort, wohl freigelassen werden. Noch ist nicht ausgemacht, ob sich Karlsruhe für Purismus oder Pragmatismus entscheidet. Allerdings beginnt sich bei den Gerichten eine Art Kompromiss abzuzeichnen: Danach müssten die gefährlichsten Täter hinter Gittern bleiben, nur die weniger Gefährlichen könnten unter Berufung auf die Europäische Menschenrechtskonvention freikommen. So will es der 5.Strafsenat des Bundesgerichtshofs (BGH); freilich muss darüber noch der Große Senat des BGH befinden.

Ist nun der Straßburger Gerichtshof für das Dilemma verantwortlich? Die Vorgeschichte zeigt: Der EGMR hat lediglich ein Problem virulent gemacht, dessen Eskalation vermeidbar gewesen wäre - hätten Bund und Länder nicht die Augen davor verschlossen.

Im Straßburger Urteil 2009 ging es um das Rückwirkungsverbot: Der deutsche Gesetzgeber hatte 1998 unter dem Eindruck spektakulärer (wenn auch seltener) Sexualmorde die auf zehn Jahre begrenzte Höchstdauer der Sicherungsverwahrung aufgehoben - eine Frist, die übrigens von den liberalen Reformern der 70er Jahre eingeführt worden war. Fortan konnten gefährliche Straftäter also im Extremfall lebenslang weggesperrt werden. Wohlgemerkt: Weit über das im Urteil vorgesehene Haftende hinaus; denn Sicherungsverwahrung sollte ja keine Strafe sein, sondern eine "Maßregel" zum Schutz der Bevölkerung.

Dagegen hätte kein Gericht etwas gehabt, hätte man die neue Vorschrift nicht auch auf jene Straftäter erstreckt, die noch unter dem alten Recht eingesperrt worden waren. Für sie war aus der zehnjährigen mit einem Mal eine potentiell unbegrenzte Sicherungshaft geworden, was sie zur Zeit des Verbrechens nicht ahnen konnten.

Der zweite Sündenfall folgte 2004: Mit einer seltsam gewundenen Begründung billigte Karlsruhe das reformierte Recht. Zwar schrieben die Richter, die Sicherungsverwahrung dürfe nicht zum "reinen Verwahrvollzug" werden, weil es eben nicht mehr um Bestrafung gehe. Die Häftlinge müssen "eine konkrete und realisierbare Chance haben, die Freiheit wiederzuerlangen" - etwa Therapiemöglichkeiten. Doch die Mahnung aus Karlsruhe fiel zu milde aus - und blieb fruchtlos.

Das nächste Warnsignal übersah die Rechtspolitik vier Jahre später. Bei der EGMR-Anhörung lagen bereits Berichte unter anderem des Menschenrechtskommissars des Europarats vor: Sie empfahlen den Deutschen dringend eine stärker auf Behandlung ausgerichtete Vollzugspraxis. Wieder geschah - nichts.

Kein Wunder also, dass der EGMR 2009 befand, die Sicherungsverwahrung sei in der deutschen Praxis vom Strafvollzug kaum zu unterscheiden und daher als Strafe anzusehen - welche aber nun mal nicht rückwirkend verhängt werden dürfe. Immer noch warteten die Länder ab; vor wenigen Tagen hat man sich endlich geeinigt. Die Justizminister der Länder wollen - angestoßen durch das kürzlich reformierte Gesetz - die Praxis der Sicherungsverwahrung neu gestalten.

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