Enthüllungsbuch über Leben mit Hartz IV:Mit Lizenz zur Ausbeutung

Wallraff-Zögling Markus Breitscheidel hat 18 Monate am Existenzminimum gelebt. Und dabei erlebt, wie es ist, Opfer der Gier von Konzernen zu sein.

Thorsten Denkler, Berlin

Günter Wallraff stellt seine lederne Sporttasche auf den Tisch und kramt draus ein Buch und ein paar Zettel hervor. Das Buch hat Markus Breitscheidel geschrieben.

Markus Breitscheidel

Markus Breitscheidel

(Foto: Foto: dpa)

Auf den Zetteln steht, was er gleich den Anwesenden über das Buch und den Autoren sagen möchte. "Arm durch Arbeit", heißt das Werk, für das Breitscheidel weitaus mehr gemacht hat, als ein paar Telefonate mit Experten und Betroffenen zu führen.

Ganz im wallraffschen Sinne macht sich Breitscheidel selbst zum Gegenstand der Berichterstattung. In den vergangenen 18 Monaten war er Hartz-IV-Empfänger und Leiharbeiter bei Opel, im Pharmakonzern Beyer/Schering und zum Ernteeinsatz auf Apfelplantagen und Erdbeerfeldern.

Breitscheidel hat Wirtschaftswissenschaften studiert und war in einem früheren Leben Marketingchef einer Werkzeugfirma. Bis er vor über zehn Jahren Wallraff kennenlernte.

Sein alter Job war Breitscheidel zunehmend sinnlos erschienen. Seine Berufung fand er im Enthüllungsjournalismus nach wallraffschen Maßstäben: engagiert und zuweilen distanzlos, aber mit vollem Einsatz von Körper und Geist.

Zu viele suchen nach Pfandflaschen

Er hat sich, wie Wallraff an diesem Dienstag in Berlin sagt, mit der Sache "gemein" gemacht. Zu den Grundtugenden des Journalisten zählt, eben dies nicht zu tun. Andererseits stellt sich die noch unbeantwortete Frage, wie jemand 18 Monate so ein Rollenspiel durchhalten soll, ohne sich am Ende "gemein" zu machen.

Nach Breitscheidels erstem Buch "Abgezockt und totgepflegt" über die Zustände in deutschen Altenheimen nun also der "Undercover-Bericht" über das Leben am Existenzminimum.

Spätestens hier ist die Sache kein Spiel mehr. Breitscheidel muss sich finanziell offenbaren. Das Amt verlangt schriftliche und beglaubigte Nachweise. Angeklebte Schnurrbärte helfen nicht weiter, um erfolgreich Hartz-IV-Empfänger zu werden. Dafür musste Breitscheidel erst seine Rücklagen fürs Alter auf den ihm zustehenden Freibetrag reduzieren. Von dem Geld lebte er einige Monate. Dann erst wurde sein Hartz-IV-Antrag bewilligt.

Als Erstes machte er eine Begegnung mit dem "wohl einzigen wirksamen Sozialgesetz von Rot-Grün", sagt Breitscheidel - "dem Flaschenpfand". Tausende Menschen verdienen sich mit dem Sammeln von Pfandflaschen ein Zubrot. Aber es sind wohl zu viele. "Die Reviere sind in den deutschen Städten abgesteckt", sagt Breitscheidel. Die Konkurrenz ist eben groß.

Mit Lizenz zur Ausbeutung

Was Breitscheidel in den 18 Monaten verdeckter Recherche erlebt und erfährt, wirft einige Fragen nach der Effizienz des Systems auf. Er ist etwa auf eine Praxis gestoßen, die es, wie er sagt, "Unternehmen in diesem Land möglich macht, kostenlos an Arbeitskräfte zu kommen".

Breitscheidel beschreibt das am Beispiel eines deutschen Briefdienstleisters: Ein privater Arbeitsvermittler bekommt von der Arbeitsagentur im Erfolgsfall bis zu 2000 Euro Provision für jeden vermittelten Hartz-IV-Empfänger. Für den Briefdienstleister ein lohnendes Geschäft, weil er an der privaten Agentur beteiligt ist. Nach drei Monaten werden diese Mitarbeiter wieder entlassen. Solange müssen sie mindestens im Unternehmen beschäftigt sein, damit die Vermittlungsprovision gezahlt wird.

Arbeiter zweiter Klasse

Breitscheidels erste Station als Zeitarbeiter war die Adam Opel AG. An die war er nur wenige Wochen von einer Zeitarbeitsfirma entliehen worden, um in Rüsselsheim Scheinwerfer einer letzten Qualitätskontrolle zu unterziehen.

Das heißt, gearbeitet hat Breitscheidel zwar auf dem Gelände der Adam Opel AG, dort aber im Lager, dessen Betrieb von einer Firma namens SCR betreut werde. Die wiederum habe eine weitere Firma namens Formel D mit der Qualitätskontrolle beauftragt, welche Teile ihres Personals für diese Aufgabe von der Zeitarbeitsfirma Nova bezog, mit der Breitscheidel einen Arbeitsvertrag hatte.

Die Konditionen: 7,15 Euro brutto. Zum Vergleich: Das niedrigste Einstiegsgehalt bei Opel soll 13,50 Euro betragen. Plus Zuschläge. Für Zeitarbeiter gibt es Nacht- oder Feiertagszuschläge nicht. Gearbeitet wird auf Zuruf. Meistens nach dem Muster: Anruf und in einer halben Stunde Treffen am Werkstor. Bezahlt werde nur für tatsächlich geleistete Stunden, schildert Breitscheidel.

Für die Zeitarbeitnehmer bei Opel gibt es keine Pausenräume, keine Umkleideräume und in der Kantine wird der doppelte Preis für ein Essen verlangt, etwa sieben Euro, wie Breitscheidel schreibt. Zeitarbeiter: Arbeiter zweiter Klasse.

Überraschend gesteht Breitscheidel zum Schluss der Buchvorstellung, er habe gar nichts gegen Zeitarbeit. Allerdings müsse der Grundsatz gelten: gleiches Geld für gleiche Arbeit. Weil eine Vollzeitstelle in der Zeitarbeit heute nicht zum Leben reiche. Breitscheidel musste immer wieder zur Arbeitsagentur und dort seinen Lohn per Aufstockung auf den Hartz-IV-Satz anheben lassen.

Fast belustigend wirken da Breitscheidels Erlebnisse in der Landwirtschaft. Einer Stellenbeschreibung für einen Erntehelfer entnimmt er, dass er 3,21 Euro die Stunde verdienen soll. Einstellungsvoraussetzung sei ein eigenes Auto, um zu den Feldern zu kommen.

Auf einem Erdbeerfeld ist ebenfalls das eigene Auto Pflicht, aber hier wird er nicht mal nach Stunden bezahlt, sondern nach geernteten Schälchen. Jede Schale bringt 25 Cent. Stundenlohn etwa 2,50 Euro. Wie er davon das Auto finanzieren soll, konnte ihm keiner erklären.

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